Reduktionismus oder Holismus

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Pluto
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Reduktionismus oder Holismus

Beitrag von Pluto »

Kaum ein anderes Thema in der Wissenschaft hat soviel Kritik auf sich gezogen, wie der Reduktionismus in der modernen Wissenschaft.
Ist er wirklich so schlecht?
Woher kommt die Kritik, und wie kann man sie begründen?
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closs
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Re: Reduktionismus oder Holismus

Beitrag von closs »

Pluto hat geschrieben:Kaum ein anderes Thema in der Wissenschaft hat soviel Kritik auf sich gezogen, wie der Reduktionismus in der modernen Wissenschaft.
Das ist eher neu und aus meiner Sicht ein Indiz für (Achtung: Provokation :lol: ) eine beginnende Emanzipation der Vernunft von der Wissenschaft.
Pluto hat geschrieben:Ist er wirklich so schlecht?
Nein - er ist sogar gut. Nur nicht überall einsetzbar.

In all den technisch-zivilisatorischen Dingen ist Reduktionismus gut - weil die System, auf die er sich bezieht, dort begrenzt sind (Architektur, Maschinenbau, Chirurgie, etc.).
Pluto hat geschrieben:Woher kommt die Kritik, und wie kann man sie begründen?
Das Problem ist die Übertragung reduktionistischer Erkenntnisse auf holistische Felder - wie etwas "Mensch", "Klima", "Gesundheit", etc. - Dort muss man abwägen, was man wie übernehmen kann.

Allerdings gibt es ein großes kulturelles Problem: Nachdem man sich über viele Generationen abgewöhnt hat, holistisch zu denken (lieber ein wissenschaftliches Klein-aber-Mein, als ein holistischer Entwurf), ist eigentlich keine Grundlage mehr da, mit der man holistisch abwägen könnte. - Insofern könnte die Kritik des Reduktionismus auch ein Schwanengesang sein, der erst wieder in vielleicht 100 oder 200 Jahren verstanden wird. - Also Optimismus kann mir wirklich keiner vorwerfen. :lol:

Aus meiner Sicht leben wir aus Sicht der hohen holistischen Vernunft in einer durchweg irrationalen Zeit, die so mit ihrem kleinteilig-rationalen Flickwerk beschäftigt ist, dass sie von ihrem Opfer, das sie damit bringt, überhaupt nichts weiss.
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Pluto
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Re: Reduktionismus oder Holismus

Beitrag von Pluto »

closs hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Ist er wirklich so schlecht?
Nein - er ist sogar gut. Nur nicht überall einsetzbar.
Kannst du auch begründen, warum er nicht überall einsetzbar ist?
closs hat geschrieben:Das Problem ist die Übertragung reduktionistischer Erkenntnisse auf holistische Felder - wie etwas "Mensch", "Klima", "Gesundheit", etc. - Dort muss man abwägen, was man wie übernehmen kann.
Was meinst du mit "holistische Felder"?
Wie beurteilt man, wo Reduktionismus unangebracht ist?
closs hat geschrieben:Aus meiner Sicht leben wir aus Sicht der hohen holistischen Vernunft in einer durchweg irrationalen Zeit, die so mit ihrem kleinteilig-rationalen Flickwerk beschäftigt ist, dass sie von ihrem Opfer, das sie damit bringt, überhaupt nichts weiss.
Wie kommst du darauf, dass sich Holismus und Reduktionismus gegenseitig ausschließen?
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ThomasM
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Re: Reduktionismus oder Holismus

Beitrag von ThomasM »

Pluto hat geschrieben:Kaum ein anderes Thema in der Wissenschaft hat soviel Kritik auf sich gezogen, wie der Reduktionismus in der modernen Wissenschaft.
Ist er wirklich so schlecht?
Woher kommt die Kritik, und wie kann man sie begründen?
Zunächst einmal ist der Reduktionismus notwendig, wichtig und absolut entscheidend, um die moderne Wissenschaft zu dem zu machen, was sie heute ist - der Motor für technische Entwicklung.
Nur durch den Reduktionismus war es möglich, den Schritt zur objektiven (oder zumindest intersubjektiv vereinbaren) Entscheidung zu gehen.
Ohne den Reduktionismus wäre der Durchbruch in so vielen Gebieten nicht möglich gewesen.

Aber wie so oft hat der Erfolg blind gemacht, blind und hochmütig. So wesentlich der Reduktionismus auch ist, er lässt einen übersehen, dass
- nicht alles in der Welt reduktiv betrachtbar ist.
- nicht alle Realität reduktiv erfassbar ist.
- der Mensch auch Dinge braucht, die mit der reduktiven Methodik nicht erreichbar sind.

Die Reduktion war so erfolgreich, dass viele Menschen angefangen haben, sie als allein seligmachende Methodik zu betrachten. Dabei kann sie in so vielen Bereichen gar nicht das erreichen, was die Menschen sich dort wünschen. Sie kann nicht alle Fragen beantworten. Doch über den Erfolg der reduktiven Herangehensweise sind andere Methoden unter Druck geraten, insbesondere unter Rechtfertigungsdruck. Dem sie nicht standhalten können, weil andere (z.B. holistische) Methoden keine Werkzeuge zur Abwehr von Betrügern und Scharlatanen haben.

Das hat (bisher?) nur die reduktive Wissenschaft (nicht mit vollkommenen erfolg, aber immerhin, besser als nichts), aber sie kann die Ziele nicht mehr erreichen, die die Menschen von ihr erwarten. Daher wenden sich die Menschen auch zunehmend davon ab, daher haben politische Manöver, die so vollkommen gegen Sinn und Verstand ausgerichtet sind, trotzdem Erfolg (Beispiel Impfgegener).

Gruß
Thomas
Gott würfelt nicht, meinte Einstein. Aber er irrte. Gott nutzt den Zufall - jeden Tag.
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closs
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Re: Reduktionismus oder Holismus

Beitrag von closs »

@ThomasM: Super Analyse :thumbup:

@ Pluto: Eigentlich hat Thomas schon meine Antwort auf Deine Fragen gegeben.
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Pluto
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Re: Reduktionismus oder Holismus

Beitrag von Pluto »

closs hat geschrieben:@ThomasM: Super Analyse :thumbup:
@ Pluto: Eigentlich hat Thomas schon meine Antwort auf Deine Fragen gegeben.
Er hat aber auch die Problematik des Holismus sehr deutlich gemacht: Holismus hat keine Möglichkeit sich vor Missbrauch zu schützen. Das Internet ist voll von dubiosen Aussagen und Behauptungen aus dem Holsmus.

Der Reduktionsismus gilt als Haupptstandbein der heutigen wissenschaftlichen Methodik. So lange man ihn zur Analyse der komplexen Natur einsetzt, sehe ich damit auch keinerlei Probleme, vorausgesetzt er wird nicht "gierig". Was ich mit gierigem Reduktionismus meine, wird klar, wenn man bspw. versucht die Wirkung eines Mausklickss auf deinem Bildschirm in Form von Bewegunen von Elektronen zu erklären.

Andererseits fallen mir immer wieder die Worte Richard Feynmans dazu ein...
Ich habe einen Freund der Künstler ist. Er hält mir eine Blume hin, und sagt, "Schau wie schön sie aussieht. Als Künstler kann ich die Schönheit dieser Blume bewundern, aber du als Wissenschaftler und Zweifler, nimmst das alles auseinander und machst daraus nur ein langweiliges Ding."
Dann denke ich für mich, "Mein Freund ist ein Dummkopf".
Erstens ist die Schönheit die er sieht, anderen Leuten oder mir genauso zugänglich, auch wenn ich die Dinge nicht mit ganz so ästhetischem Blick betrachte wie er, kann ich sehr wohl die Schönheit einer Blume erfassen. Gleichzeitig erkenne ich aber viel mehr in der Blume als er. Zum Beispiel stelle ich mir die Zellen darin vor, die komplizierten Vorgänge und Abläufe in der Blüte, die den Duft erzeugen. Es gibt eben mehr als die Schönheit auf der Ebene von Zentimetern, es gibt auch Schönheit in kleineren Dimensionen, in der inneren Struktur und in den Prozessen die darin ablaufen. Die Tatsache, dass die Farbenpracht der Blumen evolviert ist, um Insekten anzuziehen, bedeutet, dass Insekten diese Farben erkennen können. Das führt zur nächsten Frage: haben niedere Lebensformen ebenfalls einen Sinn für Ästhetik? Warum ist eine Blume überhaupt ästhetisch? Plötzlich entstehen viele weitere interessante Fragen, die die Wissenschaft uns erklären hilft, und so die Ehrfurcht für, und das Mysterium um die Blume, nur steigern.

Wissenschaft fügt hinzu; ich sehe nicht, wie sie der Schönheit einer Blume etwas nimmt.
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closs
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Re: Reduktionismus oder Holismus

Beitrag von closs »

Pluto hat geschrieben:Holismus hat keine Möglichkeit sich vor Missbrauch zu schützen.
Absolut richtig. - Und weil Thomas das Stichwort "Impfgegner" gegeben hat: Gäbe es mehr Vertrauen in das Interesse der Wissenschaft, Sachverhalte komplex zu sehen, gäbe es weniger HP-Anhänger und Impfgegner.

Man kann Missbrauchs-Möglichkeiten nicht als Argument benutzen, einen Ansatz zu verwerfen und sich aufs Klein-Klein zu reduzieren.
Pluto hat geschrieben: ich sehe nicht, wie sie der Schönheit einer Blume etwas nimmt.
Das ist etwas anderes: Hier werden Wissenschaft und Emotion gegenübergestellt. - Bei der Frage "Reduktionismus - Holismus" geht es dagegen darum, wie man mit physikalisch komplexen Systemen umgeht (etwa: Gesundheit).
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Pluto
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Re: Reduktionismus oder Holismus

Beitrag von Pluto »

closs hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben: ich sehe nicht, wie sie der Schönheit einer Blume etwas nimmt.
Das ist etwas anderes: Hier werden Wissenschaft und Emotion gegenübergestellt.
Nein. Wissenschaft und Ästhetik.
closs hat geschrieben:- Bei der Frage "Reduktionismus - Holismus" geht es dagegen darum, wie man mit physikalisch komplexen Systemen umgeht (etwa: Gesundheit).
Apropos "Gesundheit".
Wer hätte vor 200 Jahren gedacht, dass es der Wissenschaft gelingen würde, die Lebenserwartung der Menschen praktisch zu verdoppeln?
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sven23
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Re: Reduktionismus oder Holismus

Beitrag von sven23 »

closs hat geschrieben:- Bei der Frage "Reduktionismus - Holismus" geht es dagegen darum, wie man mit physikalisch komplexen Systemen umgeht (etwa: Gesundheit).
Die Feststellung allein, daß sein System komplex ist, bringt noch keinen Erkenntnisgewinn. Will man das System verstehen, führt kein Weg am Reduktionismus vorbei, das ein hervorragendes Werkzeug ist.
Nur so hat man eine Chance, ein System in seiner ganzen Komplexität zu verstehen. Ist zwar mühsam, aber alternativlos.
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
George Orwell
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closs
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Re: Reduktionismus oder Holismus

Beitrag von closs »

Pluto hat geschrieben:Nein. Wissenschaft und Ästhetik.
Auch ok - aber eben nicht inner-physikalische Dinge - und da spielt sich doch das Problem ab, von dem wir sprechen.
Pluto hat geschrieben:Wer hätte vor 200 Jahren gedacht, dass es der Wissenschaft gelingen würde, die Lebenserwartung der Menschen praktisch zu verdoppeln?
Das zeigt, dass reduktive Wissenschaft hoch effektiv sein kann (Pharma, Chirugie, etc.). - Keiner will reduktive Wissenschaft in Frage stellen - es geht vielmehr um die Frage, wie die Terrains holistischer und reduktiver Sichtweise abzustecken sind.
sven23 hat geschrieben:Nur so hat man eine Chance, ein System in seiner ganzen Komplexität zu verstehen.
Im Idealfall JA - aber soweit kommt es doch in der Praxis nicht. - Da reicht es oft, punktuelle Fragen als Voraussetzung für operatives Handeln zu beantworten - und gut ist.

Wir bräuchten mehr medizinische Grundlagen-Forschung, die NICHT von der Pharma bezahlt ist, und Professoren, die NICHT mit der Pharma verbandelt sind. - Nicht weil die Pharma "pöhse" ist, sondern weil es Frage-Komplexe gibt, die nicht im Sinne der Pharma sein können, deren Beantwortung dementsprechend auch nicht gefördert wird.
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