Wie aktuell ist heute George Orwells "1984"?

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closs
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Wie aktuell ist heute George Orwells "1984"?

Beitrag von closs »

Als Mini-Einführung für Foristen, die das Buch "1984" nicht kennen:
"1984" ist ein Roman von George Orwell, in dem (aus Sicht der 1940er Jahre) ein totalitärer Überwachungsstaat im Jahre 1984 dargestellt wird. Protagonist der Handlung ist Winston Smith, der im „Ministerium für Wahrheit“ (Propagandaministerium) in London arbeitet. Seine Arbeit besteht zum größten Teil darin, ideologisch Unerwünschtes zu manipulieren oder zu löschen und somit andere Wahrheits-Ansätze für die Öffentlichkeit und Nachwelt zu verfälschen oder zu eliminieren. Trotz oder gerade wegen seines Jobs möchte Smith trotz der allgegenwärtigen Überwachung etwas über andere Wahrheits-Ansätze erfahren, was ihn in Konflikt mit dem System geraten lässt - daraus entwickelt sich eine Geschichte, die durchaus lesenswert ist.

Wichtig jedoch im Sinne dieses Threads: Sprachpolitisches Endziel der Regierung ist es, dass alle relevanten Mitglieder der Gesellschaft ausschließlich in der neuen Sprachform ("Neusprech") kommunizieren. Dieses Ziel soll im Jahre 2050 erreicht sein - bis dahin soll Altsprech (= Ausdrucksform der Tradition) durch Neusprech immer weitgehender eingeschränkt und zuletzt eliminiert werden.

Meine These:
Unser anthropozentrisch-materialistische Gesellschafts-Mainstream ähnelt dem "Ministerium für Wahrheit" (und somit der Kirche des Mittelalters) insofern, dass er nachhaltig Sprache manipuliert, um zu einer Neusprech-Gleichschaltung zu kommen.

Deutlich scheint mir dies zu werden bei Begriffen wie etwa "Geist", "Bewusstsein", "Aufklärung" und aktuell "Ehe", die semantisch zu etwas ganz anderem gemacht werden, als sie von ihrer Grundbedeutung her inhaltlich zum Ausdruck bringen möchten, UND deren Neusprech-Bedeutungen gleichzeitig mit sofortiger Wirkung als einzig gültige Bedeutung propagiert werden.

Was sind Eure Beobachtungen dazu?
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sven23
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Re: Wie aktuell ist heute George Orwells "1984"?

Beitrag von sven23 »

closs hat geschrieben: Meine These:
Unser anthropozentrisch-materialistische Gesellschafts-Mainstream ähnelt dem "Ministerium für Wahrheit" (und somit der Kirche des Mittelalters) insofern, dass er nachhaltig Sprache manipuliert, um zu einer Neusprech-Gleichschaltung zu kommen.

Deutlich scheint mir dies zu werden bei Begriffen wie etwa "Geist", "Bewusstsein", "Aufklärung" und aktuell "Ehe", die semantisch zu etwas ganz anderem gemacht werden, als sie von ihrer Grundbedeutung her inhaltlich zum Ausdruck bringen möchten, UND deren Neusprech-Bedeutungen gleichzeitig mit sofortiger Wirkung als einzig gültige Bedeutung propagiert werden.

Was sind Eure Beobachtungen dazu?
Die Kirche als "Ministerium für Wahrheit". Interessanter Vergleich und gar nicht mal so schlecht, denn in der Tat beanspruchte die Kirche die Deutungshoheit über die Welt und hat damit auch wissenschaftlichen Fortschritt lange Zeit behindert.

Zur Sprache ist zu sagen, dass diese natürlich auch dem Wandel der Zeiten unterliegt, wie die Gesellschaft im allgemeinen.
Orwell ging es aber um etwas anderes, nämlich um die sprachliche Indoktrination durch einen totalitären Staat.
Vorbilder waren sicher der Nationalsozialismus oder der Stalinismus. In der DDR schätzte man sehr die Deviseneinnahmen der Weihnachtsschmuckherstellung im Erzgebirge, benannte aber aus ideologischen Gründen die Engel in "Jahresendflügelpuppen" um. :lol:
Ich denke, auch heute wird Sprache für jeweilige Zwecke instrumentalisiert. Das läßt sich gar nicht verhindern. Die Frage ist, ob das wie bei Orwell diktatorisch verordet wird, oder ob es einen gesellschaftlichen Diskurs darüber gibt. In einer freien Gesellschaft ist der jederzeit möglich.
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
George Orwell
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Janina
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Re: Wie aktuell ist heute George Orwells "1984"?

Beitrag von Janina »

closs hat geschrieben:Deutlich scheint mir dies zu werden bei Begriffen wie etwa "Geist", "Bewusstsein", "Aufklärung" und aktuell "Ehe", die semantisch zu etwas ganz anderem gemacht werden, als sie von ihrer Grundbedeutung her inhaltlich zum Ausdruck bringen möchten.
Was sind Eure Beobachtungen dazu?
Dass du immer noch nicht deutlich machen konntest, was der Unterschied zwischen einer Familiengründung zweier mündiger Personen und einer Familiengründung zweier mündiger Personen ist.
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Novas
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Re: Wie aktuell ist heute George Orwells "1984"?

Beitrag von Novas »

closs hat geschrieben:Als Mini-Einführung für Foristen, die das Buch "1984" nicht kennen:
"1984" ist ein Roman von George Orwell, in dem (aus Sicht der 1940er Jahre) ein totalitärer Überwachungsstaat im Jahre 1984 dargestellt wird. Protagonist der Handlung ist Winston Smith, der im „Ministerium für Wahrheit“ (Propagandaministerium) in London arbeitet
In der Matrix-Trilogie ist übrigens Agent Smith einer der Agenten, der die Matrix beschützt und Gegenspieler Neos. Das ist offenbar eine Anspielung auf Winston Smith. Doch der hat gegen eine spirituell erwachte Seele keine Chance :D

Bild
Unser anthropozentrisch-materialistische Gesellschafts-Mainstream ähnelt dem "Ministerium für Wahrheit" (und somit der Kirche des Mittelalters) insofern, dass er nachhaltig Sprache manipuliert, um zu einer Neusprech-Gleichschaltung zu kommen.
Dazu sei gesagt, dass in der alten Mythologie zwischen den Suras und Asuras unterschieden wird. Sura bedeutet im Sanskrit „Lichtwesen“ (vgl. „Surya“, den Namen des hinduistischen Sonnengottes). Das sind jene Wesen, die in Einklang mit der göttlichen Ordnung, dem Dharma leben. Die Asuras hingegen gelten als „Gegner der Lichtwesen“ (und der Materialismus gilt als Weltanschauung der asurischen Mächte) Die Bhagavad Gita, die Heilige Schrift der Inder (vergleichbar der Bibel) beschreibt eine Schlacht (Schlacht zu Kurukshetra) der asurischen, egoistischen Kräfte mit denen Vertretern der göttlichen Ordnung.
Krishna nennt die Eigenschaften von Menschen mit „göttlicher Natur“ und die Eigenschaften von Menschen mit „dämonischer Natur“. Menschen von dämonischer (asurischer) Wesensart sagen, es gibt kein sittliches Gesetz. Allein die Lust regiere die Welt. Von Gier und Zorn durchbebt verschmähen sie den Gott, der in ihnen und den anderen lebt. Sie sinken herab zum tiefsten Ort und finden mich nie. Du aber, Arjuna, bist von göttlicher Wesensart. Darum handele stets so, wie es das Dharma verlangt.
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closs
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Re: Wie aktuell ist heute George Orwells "1984"?

Beitrag von closs »

sven23 hat geschrieben:Die Kirche als "Ministerium für Wahrheit". Interessanter Vergleich und gar nicht mal so schlecht
Ja - für das Mittelalter ist dieser Vergleich meines Erachtens durchaus angebracht. - Die Frage hier: Wo ist heute das "Ministerium für Wahrheit" angesiedelt?
sven23 hat geschrieben:Orwell ging es aber um etwas anderes, nämlich um die sprachliche Indoktrination durch einen totalitären Staat.
Erkennst Du heute totalitäre Strukturen in der Gesellschaft?
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sven23
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Re: Wie aktuell ist heute George Orwells "1984"?

Beitrag von sven23 »

closs hat geschrieben:
sven23 hat geschrieben:Die Kirche als "Ministerium für Wahrheit". Interessanter Vergleich und gar nicht mal so schlecht
Ja - für das Mittelalter ist dieser Vergleich meines Erachtens durchaus angebracht. - Die Frage hier: Wo ist heute das "Ministerium für Wahrheit" angesiedelt?
Z. B. in Nordkorea.
closs hat geschrieben:
sven23 hat geschrieben:Orwell ging es aber um etwas anderes, nämlich um die sprachliche Indoktrination durch einen totalitären Staat.
Erkennst Du heute totalitäre Strukturen in der Gesellschaft?
Das wäre auf die bundesrepublikanische Gesellschaft bezogen völlig übertrieben.
Es gibt Tendenzen hin zu einer Interessen- und Lobbygesellschaft. Solange die Politik auf Intessenausgleich bedacht ist und nicht einseitig Partei ergreift, wäre auch das noch ok. Kritikwürdige Ansätze dazu sind aber durchaus vorhanden.
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
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closs
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Re: Wie aktuell ist heute George Orwells "1984"?

Beitrag von closs »

sven23 hat geschrieben:Das wäre auf die bundesrepublikanische Gesellschaft bezogen völlig übertrieben.
Wenn man das Grundgesetz zugrunde legt, gebe ich Dir recht - was Strukturen der medien-favorisierten Gesellschaft angeht, sehe ich es kritischer.

Guck mal in die USA: Trump wurde dadurch möglich, dass medien-favorisiertes Neusprech auf "das Volk" getroffen ist, das wo ganz woanders daheim ist. - Dieses Volk hätte als Alternative auch einen Kühlschrank zum Präsidenten gewählt - Hauptsache kein "Neusprech-Kandidat".

Trotzdem zur Ausgangsfrage:
Beunruhigt es Dich nicht, wenn Begriffe wie etwa "Geist", "Bewusstsein", "Aufklärung" und aktuell "Ehe", die in Neusprech-Manier semantisch zu etwas ganz anderem gemacht werden, als sie von ihrer Grundbedeutung her inhaltlich zum Ausdruck bringen möchten, UND wenn deren Neusprech-Bedeutungen gleichzeitig mit sofortiger Wirkung als einzig gültige Bedeutung propagiert werden?
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sven23
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Re: Wie aktuell ist heute George Orwells "1984"?

Beitrag von sven23 »

closs hat geschrieben:
sven23 hat geschrieben:Das wäre auf die bundesrepublikanische Gesellschaft bezogen völlig übertrieben.
Wenn man das Grundgesetz zugrunde legt, gebe ich Dir recht - was Strukturen der medien-favorisierten Gesellschaft angeht, sehe ich es kritischer.

Guck mal in die USA: Trump wurde dadurch möglich, dass medien-favorisiertes Neusprech auf "das Volk" getroffen ist, das wo ganz woanders daheim ist. - Dieses Volk hätte als Alternative auch einen Kühlschrank zum Präsidenten gewählt - Hauptsache kein "Neusprech-Kandidat".
Das hat weniger mit Sprache zu tun, als mit den Folgen einer neoliberalen Politik, die einen Großteil der Bevölkerung ökonomisch abgehängt hat, (Stichwort: working poor), bei gleichzeitig enormem Vermögenszuwachs an der Spitze. So etwas produziert die Trumps dieser Welt.
closs hat geschrieben: Trotzdem zur Ausgangsfrage:
Beunruhigt es Dich nicht, wenn Begriffe wie etwa "Geist", "Bewusstsein", "Aufklärung" und aktuell "Ehe", die in Neusprech-Manier semantisch zu etwas ganz anderem gemacht werden, als sie von ihrer Grundbedeutung her inhaltlich zum Ausdruck bringen möchten, UND wenn deren Neusprech-Bedeutungen gleichzeitig mit sofortiger Wirkung als einzig gültige Bedeutung propagiert werden?
Wie ich schon sagte, unterliegt auch die Sprache und damit die Bedeutung von Worten einem zeitbedingten Wandel. Inhalte und Bedeutungen von Worten werden immer wieder neu ausgehandelt und definiert. Ein historischer Prozess, der nie abgeschlossen ist.
Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.
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R.F.
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Re: Wie aktuell ist heute George Orwells "1984"?

Beitrag von R.F. »

sven23 hat geschrieben: - - -
Die Kirche als "Ministerium für Wahrheit". Interessanter Vergleich und gar nicht mal so schlecht, denn in der Tat beanspruchte die Kirche die Deutungshoheit über die Welt und hat damit auch wissenschaftlichen Fortschritt lange Zeit behindert.
Das musste ja kommen. In weltanschaulicher Hinsicht sind die Naturalisten selbstverständlich völlig neutral und vernunft-gesteuert... :P

Ich habe übrigens kein Grund, das Gebaren der Kirchen gut zu heißen...
sven23 hat geschrieben: In der DDR schätzte man sehr die Deviseneinnahmen der Weihnachtsschmuckherstellung im Erzgebirge, benannte aber aus ideologischen Gründen die Engel in "Jahresendflügelpuppen" um. :lol:
Und nicht vergessen Schokoladenhohlkörper für Osterhasen...
sven23 hat geschrieben: Ich denke, auch heute wird Sprache für jeweilige Zwecke instrumentalisiert. Das läßt sich gar nicht verhindern. Die Frage ist, ob das wie bei Orwell diktatorisch verordet wird, oder ob es einen gesellschaftlichen Diskurs darüber gibt. In einer freien Gesellschaft ist der jederzeit möglich.
Du hältst also die Gesellschaft mit ihren "westlichen Werten" nicht für frei?
R.F.
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Re: Wie aktuell ist heute George Orwells "1984"?

Beitrag von R.F. »

sven23 hat geschrieben:
closs hat geschrieben:
sven23 hat geschrieben:Das wäre auf die bundesrepublikanische Gesellschaft bezogen völlig übertrieben.
Wenn man das Grundgesetz zugrunde legt, gebe ich Dir recht - was Strukturen der medien-favorisierten Gesellschaft angeht, sehe ich es kritischer.

Guck mal in die USA: Trump wurde dadurch möglich, dass medien-favorisiertes Neusprech auf "das Volk" getroffen ist, das wo ganz woanders daheim ist. - Dieses Volk hätte als Alternative auch einen Kühlschrank zum Präsidenten gewählt - Hauptsache kein "Neusprech-Kandidat".
Das hat weniger mit Sprache zu tun, als mit den Folgen einer neoliberalen Politik, die einen Großteil der Bevölkerung ökonomisch abgehängt hat, (Stichwort: working poor), bei gleichzeitig enormem Vermögenszuwachs an der Spitze. So etwas produziert die Trumps dieser Welt.
Entweder Du kennst tatsächlich nicht die schlimmsten Verursacher wirtschaftlichen Unrechts - das muss Dir aber nicht sonderlich leid tun. Denn hier zeigt sich die Effizienz heutiger Wahrheitsministerien. Oder aber Du fürchtest Dich vor Konsequenzen, falls Du deutlicher wirst.
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