Der Mensch wandelte im Paradies mit Gott. Alles war im und beim Guten, denn Gott war gut. Nach dem Sündenfall des Menschen erkannte dieser nicht nur das Böse, sondern ebenso das Gute in sich und den unendlich tiefen Abgrund, der sich nun hin zu Gott auftat. Der Mensch begann zu vergleichen, was ungleich. Die Antwort der Erkenntnis von Gut und Böse an Gott war, sich zu verbergen. Das Gute schämt sich in Gottes Licht, das Böse zieht in die Finsternis.
Doch Gott sieht die Scham des Menschen, dessen Erkenntnis nie so gut wie Gott sein zu können, weil es das Böse verhindert. Gott deckt diese Scham, die Ursache von Sünde, der Entfernung von Gott, mit Liebe zu. So wie Gott, sollen es auch die Menschen tun, erinnert uns Petrus (1Petr 4:8 HSK):
Gott macht ein Fell, das Scham verdecken soll, ein erstes Opfer für die Sünde der Menschen. Doch damit wird Scham von Gott zu etwas wertvollem gemacht, zu einem Teil der menschlichen Würde. Die Liebe sollte in der Keuschheit nicht restlos durch die Sünde verdorben werden. In der Reinheit des Herzens, die besonders in der Verbundenheit mit Gott im Gebet erlangt wird, entsteht ein Raum der Gnade, in dem der Mensch von Gottes Liebe berührt wird. Es entsteht ein Weg zu einer ungeteilten menschlichen Liebe. Der keusche Mensch kann trotz der Sünde weiterhin mit aufrichtigen und ungeteilten Herzen lieben.„Vor allem aber habt zueinander beharrliche Liebe; denn Liebe überdeckt eine Menge von Sünden“.
Die Scham schützt den intimen Raum des Menschen. Dort ist sein Eigenstes, sein Geheimnis und Innerstes, eine Würde, die nur Gott kennt. In dieser Intimität wird der Mensch fähig, rein zu lieben und sich erotisch zu verschenken. Die Scham bezieht sich auf das, was nur die Liebe sehen darf. Der Mensch darf Verborgenes, ein Mysterium, besitzen, das nur der Liebe und dem Guten vorbehalten bleibt. Diese Liebe kann dem Ehepartner, dem Nächsten, aber besonders Gott gelten. Auch die tiefe Liebesbeziehung zu Jesus Christus im Herzen darf ein intimes Geschehen sein, welches nur Gott und dem Menschen etwas angeht. Das Motto der Dominikaner drückt es so aus: „Contemplata aliis tradere“ („Nur das, was du im Gebet wirklich verstanden und erfahren hast, sollst du weitergeben“).
In der Welt wird wie selbstverständlich alles zur Schau gestellt. In den sozialen Medien werden besonders junge Menschen unter Druck gesetzt, alles von sich preis zu geben. Das Schamgefühl soll dort systematisch abtrainiert werden. Aber Schamlosigkeit ist unmenschlich. Wer Menschen bloßstellt, sowohl körperlicher, als auch geistiger Art, verletzt deren Schamgefühl. Es kann in Gesten, Worte, Blicke und Handlungen geschehen und damit werden Menschen ihrer Würde beraubt. Denn Scham versteckt nicht etwas Minderwertiges, sondern schützt etwas Wertvolles, nämlich die Würde der Person in ihrer Fähigkeit rein zu lieben.
Das Schamgefühl gibt es in unterschiedlichen Ausprägungen in allen Kulturen. Es hat nichts mit Prüderie oder verklemmter Erziehung zu tun. Es ist ein menschliches Wesensmerkmal, ein Geschenk Gottes. So schämt sich der Mensch für seine Sünden und den Dingen, deren Veröffentlichung ihn bloßstellen würde. Die Scham ist ein Kind des Gewissens, in dem Gott das Gute im Menschen anzusprechen vermag und die Sünde erkennen.
Die guten Früchte der Scham sind Intimität und Diskretion. Die Diskretion ist die Fähigkeit, zu unterscheiden, wann man wem was sagen kann oder recht handeln, ohne dessen und die eigene Würde zu verletzen. Denn alles, was man sagt, muss wahr sein, aber nicht alles, was wahr ist, muss gesagt sein. Auch alles tun muss der Wahrheit entsprechen und das Schamgefühl des Menschen, das eigene und das des anderen, darf dabei nicht verletzt werden. Alles muss in Liebe gesagt sein, denn die Wahrheit soll nicht als Waffe eingesetzt werden und zerstören, sondern aufbauen. Hier sind die sogenannten „drei Siebe“ hilfreich, die Sokrates bei der Mitteilung von Informationen verwendete. Sie lauten: Ist es wahr? Ist es gut? Ist es hilfreich?
Servus