In Schlesien unterwegs: Eine Stadt namens Mittwoch

Literatur, Malerei, Bildhauerei
Nevis

In Schlesien unterwegs: Eine Stadt namens Mittwoch

Beitrag von Nevis »

In Schlesien unterwegs: Eine Stadt namens Mittwoch

Es war in der Zeit vor Ostern 2003, als ich mit dem Zug nach Breslau gefahren bin, um Bekannte dort zu besuchen, aber auch, um die Stadt und das Land etwas kennenzulernen.

Über die Zugfahrt, über Breslau, und über meine Begegnung mit Rübezahl im Riesengebirge wäre auch manches zu erzählen.

Doch hier soll nur die Rede sein von meiner Reise in die Stadt namens Mittwoch.
Nevis

Re: In Schlesien unterwegs: Eine Stadt namens Mittwoch

Beitrag von Nevis »

Im Bahnhof zu Breslau begann meine kleine Reise.

Ich war so gegen 16 Uhr am gleichen Tag mit meinen Bekannten verabredet, und so mußte ich mir eine Stadt aussuchen, von der aus ich rechtzeitig wieder gegen 16 Uhr zurück sein konnte.

Eigentlich hätte ich gerne Liegnitz gesehen, aber dann hätte ich nur schnell mal dahin und sofort wieder zurück fahren können. Das war mir zu viel Hetze, und so suchte ich mir nach dem Fahrplan ein wohl eher kleines Städtchen aus, von dem ich vorher noch nie gehört hatte.

Doch in diesem Falle würde die Zeit reichen, mir das Städtchen anzusehen, gemütlich zu Mittag zu essen, und dann wieder zurückzufahren.

So dachte ich ....
Nevis

Re: In Schlesien unterwegs: Eine Stadt namens Mittwoch

Beitrag von Nevis »

Im Bahnhof zu Breslau gelang es mir trotz meiner geringen Polnisch-Kenntnisse, eine Fahrkarte zu erstehen. Und sogar ohne die ewige Warterei, die inzwischen in deutschen Bahnhöfen zum Pflichtprogramm gehört.

Nun fuhr ich also in einem Bummelzug meinem Ziel entgegen. Ich fahre gerne mit solchen Zügen, wenn ich im Ausland bin. Man hat eher das Gefühl, in das fremde Land einzutauchen, als wenn man im Auto oder einem der internationalen Fernzüge unterwegs ist.

Außerdem sieht man die Landschaft besser.

Nach etwa 20 min oder so war ich am Ziel. Ich war der einzige, der an dieser Station ausstieg.

Da stand ich nun am Bahnhof. Ein Bahnhofsgebäude war da. Doch wo war die Stadt, um Gottes willen? Wo war Mittwoch?

Ringsum nur Wälder und Felder in leichtem Nebel. Nirgendwo war etwas auch nur entfernt Stadt-Ähnliches zu entdecken .... keine Häuser ....keine Hütten .... nichts ....
Nevis

Re: In Schlesien unterwegs: Eine Stadt namens Mittwoch

Beitrag von Nevis »

Nun stand ich da allein am Bahnhof ... ohne dazugehörige Stadt.

Machmal meinte ich im Nebel zwischen den Bäumen Häuser zu erkennen .. aber dann waren es nur andere Bäume.

Wunschdenken eben .... Fata Morganas .... die Wüste Sahara in anderer Form ... und das mitten in Schlesien ......

Auf einer Bank vor dem Bahnhofsgebäude saß jemand. Ein Penner! Ich fürchtete, wenn ich ihn fragte, würde ich ihn nicht mehr los.

Der Bahnhof stand am Ende einer kurzen Sackgasse, die von einer Landstraße abging.

Die verlief von Nord nach Süd. Doch war da keinerlei Hinweisschild, und ich wusste natürlich nicht, in welcher Richtung ich die Stadt suchen sollte.

Endlich kam eine alte Frau des Weges, die ich in meinem kaum vorhandenen Polnisch nach dem Weg fragte. Wortlos machte sie eine vage Handbewegung in nördlicher Richtung.

Und so begab ich mich zu Fuß auf den langen Marsch nach Mittwoch ....

In der Hoffnung, daß die alte Frau mir den richtigen Weg gezeigt hatte und ich nicht vielleicht in Dienstag oder Donnerstag landen würde ......
Nevis

Re: In Schlesien unterwegs: Eine Stadt namens Mittwoch

Beitrag von Nevis »

Und es geht weiter ....


Erst mal nämlich wanderte ich auf einer schmalen Landstraße ins Ungewisse. Ich konnte nur hoffen, daß die alte Frau mich recht verstanden und mir die richtige Richtung gezeigt hatte.

Wenn man alte Frauen nach dem Weg fragt, kann man da nicht immer sicher sein, wie ich bei anderen Gelegenheiten schon erfahren mußte ....

Die Straße zog sich .....

Ich hatte erwartet, daß sich doch nach einiger Zeit die ersten Häuser von Mittwoch zeigen würden. Aber Fehlanzeige! Immer nur neue Felder und Bäume im Nebel .

Bauern kamen mir entgegen auf ihrem Weg zu den Feldern. Sie grüßten mich - jedoch nicht mit dem üblichen polnischen "Guten Tag!" Ich vermutete, daß es eine eher altertümliche Formel war, und habe später auch gehört, daß meine Vermutung richtig war.

Statt "GutenTag!" sagten sie so in etwa: "Seid mir gegrüßt, oh edler Herr!"

Vielleicht war ich durch einen Zeitsprung ins Mittelalter geraten, wie man das in Science Fiction Romanen ja gerne liest?

Auf einer Zeitreise war ich ja schon, denn ich war auf dem Weg nach Mittwoch .....
Nevis

Re: In Schlesien unterwegs: Eine Stadt namens Mittwoch

Beitrag von Nevis »

Nach einer Weile traf ich auf einen jungen Mann, der mit kleinem Kind und Fahrrad unterwegs war.

Er hatte am rechten Straßenrand angehalten, um von einem Weidenbaum Zweige mit Kätzchen zu pflücken.
Es ging ja auf Ostern zu.

Mir erschien er als jemand, von dem ich glaubwürdige Auskunft bekommen konnte.
Und ich hatte mich nicht getäuscht.

Er sprach sogar etwas Deutsch und versicherte mir, daß ....

a) die Stadt Mittwoch tatsächlich existierte (ich hatte schon gezweifelt)
b) diese Stadt einige tausend Einwohner habe.

Ermutigt setzte ich meinen Weg fort.

Eine Stadt mit einigen tausend Einwohnern wird ja sicher auch ein paar Restaurants haben, so sagte ich mir!

Doch man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.

Und die Stadt war immer noch nicht in Sicht ....
Nevis

Re: In Schlesien unterwegs: Eine Stadt namens Mittwoch

Beitrag von Nevis »

Nun hatte ich also wenigstens die Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein.

Und wirklich: Nach einiger Zeit sah ich tatsächlich ein Ortsschild mit der Aufschrift "Mittwoch".
(Natürlich das polnische Wort für Mittwoch)

Dahinter aber war immer noch keine Stadt, es war erst mal wohl nur die offizielle Stadtgrenze.

Dann langsam aber kamen tatsächlich Häuser in Sicht.

Doch welche Enttäuschung!

Es waren nur Ställe, Scheunen, Fabrikanlagen.

Nichts Schönes, und auch nichts im entferntesten Essbares!

Ich hatte inzwischen einen ordentlichen Appetit, geradezu einen Hunger. Einmal wegen der Mittagszeit, und dann noch verstärkt durch meine lange Wanderung.

Ich wäre mit der einfachsten Imbiss-Bude zufrieden gewesen, aber es gab keine. Auch keine Bäckerei, keinen Lebensmittel-Laden, einfach nichts.

Nur immer wieder neue Ställe, Scheunen, und alte Fabriken.

Schließlich kam ich an eine Kreuzung .....

Wohin sollte ich gehen? Nach links, nach rechts, oder gerade-aus?

Eine schwere Entscheidung,
Eine schwere Entscheidung, ganz besonders im Nebel .....
Nevis

Re: In Schlesien unterwegs: Eine Stadt namens Mittwoch

Beitrag von Nevis »

An der Kreuzung hatte ich nun also drei Möglichkeiten zur Auswahl - wenn man von einer Rückkehr mal absieht:

Rechts und geradeaus hatte ich die Wahl zwischen weiteren Ställen, Scheunen und alten Fabriken - oder auch zwischen Feldern und Bäumen im Nebel.

Linkerhand aber sah ich Häuser, die mir mehr nach Wohnhäusern aussahen, wenn auch undeutlich im Nebel.

Ich ging also nach links.
Und dann, nach einer Kurve, sah ich das wahre Mittwoch!
Nevis

Re: In Schlesien unterwegs: Eine Stadt namens Mittwoch

Beitrag von Nevis »

Ja, die Stadt war also doch keine Fata Morgana!

Als ich um eine Kurve bog, da bot sich mir ein malerischer Anblick wie aus einem Bilder- oder Märchenbuch.

Eine herrlich-gemütliche Kleinstadt mit Rathaus, Kirche, Marktplatz, mit allem, was ein Städtchen so braucht.

Es sah aus, als wäre es z.B. aus Mittelhessen hierhergezaubert worden.

Ich spazierte fröhlich über diesen Marktplatz, von dem man aus mit einem Blick die Übersicht über all die schönen alten und harmonisch zueinander passenden Häuser hatte.

Es gab außer Kirche und Rathaus auch Post, Polizei, Apotheke, Geschäfte usw.

Nur eins sah ich nicht: Ein Restaurant oder ein Café.

Der Platz lud förmlich dazu ein, eine ganze Reihe von Straßencafés zu eröffnen.

Doch ich sah nichts derartiges.

Sollte ich nur deshalb an mein schönes Ziel gelangt sein, um hungrig wieder den Weg zurück zum Bahnhof zu nehmen?

*heul*
Nevis

Re: In Schlesien unterwegs: Eine Stadt namens Mittwoch

Beitrag von Nevis »

Ich stand also auf diesem wunderschönen Marktplatz von Mittwoch und war auf der Suche nach einem Mittagessen. Nirgends war etwas Restaurant-Ähnliches zu sehen.

Schließlich fragte ich eine Frau nach einer restauracja, polnisch für Restaurant.

Sie zeigte auf ein Haus schräg gegenüber, das mir jetzt von weitem nicht aufgefallen wäre.

Ich ging dahin, und wirklich: Das stand Restauracja am Eingang.

Das war aber das einzig Einladende daran.

Das ganze Haus wirkte gleichzeitig modern und heruntergekommen, im Gegensatz zu den anderen Häusern am Platz.

Es machte einen düsteren und verdreckten Eindruck.

Außerdem war es geschlossen!

Vielleicht versteht ihr, daß ich trotz meines Hungers richtig erleichtert war, daß dieses Haus geschlossen hatte, so daß ich vor mir selber die beste "Ausrede" hatte, hier nicht essen zu wollen.

Aber irgendwo wollte ich ja essen.

Wieder fragte ich zwei Passanten: "Restauracja?"

Und sie antworteten: "Tulipan!"

Das ist das polnische Wort für Tulpe.

Einen Moment überlegte ich, ob sie mich mißverstanden hatten und mir ein Blumengeschäft nennen wollten.

Aber nein, sie empfahlen mir ein Restaurant namens "Tulpe".
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