Claymore hat geschrieben: ↑So 9. Okt 2022, 10:20
Ich würde jetzt mal aufgrund der desaströsen Performance der russischen Armee es für möglich halten, dass es dabei dann auch bleibt und der Waffenstillstand nicht - wie behauptet - nur eine Verschnaufpause darstellt, bevor Russland wieder erneut angreift.
Das sehe ich genauso, würde es allerdings nicht nur mit der desaströsen Performance (und dem fehlenden Momentum) begründen. Ich glaube im Kern hat man, was man wollte, wenn auch teuer erkauft.
Klar, man hat die Ukraine nicht "entnazifiziert", da die "Nazi"-Regierung in Kyiv die selbe ist, wie zuvor. Man hat die russischen Minderheiten in den Regionen der Ostukraine nicht vollständig "befreit" und ihnen den angeblich unbändigen Wunsch nach Anschluss an Russland erfüllt, da z.B. Charkiv, eine Region, die in der letzten Volkszählung einen höheren russischen Anteil vorweisen konnte, als Cherson und einen ähnlichen wie Saporischschja, immer noch vollständig unter ukrainischer Kontrolle ist und ja, auch Teile der beiden letztgenannten annektierten Regionen würden bei einer Grenzziehung entlang der kontrollierten Gebiete ukrainisch bleiben, ebenso wie ein Teil von Donezk. Man hat die Opferzahl in der Zivilbevölkerung, um deren Schutz es angeblich ging im Vergleich zu den acht Jahren zuvor vervielfacht und man hat es auch nicht geschafft, die Ukraine vom Westen allgemein und der NATO im Speziellen zu isolieren, im Gegenteil.
Die Ziele, die sich aus den vorgeschobenen Gründen für die Invasion ergeben müssten, wurden wenn überhaupt nur teilweise erfüllt, aber man würde in einer Hinsicht einen wichtigen Erfolg verzeichnen, wenn man es schaffen würde, die aktuelle Gebietsverteilung als neuen, unumstößlichen Status Quo zu etablieren und der liegt darin, was die Regionen Cherson, Saporischschja und Donezk verbindet, bzw. was sie verbinde
n. Die Krim ist strategisch relevant und die Krim wäre bei einem ukrainischen Versuch der Rückeroberung nicht zu halten, wenn die einzige Verbindung zum russischen Festland eine Brücke ist, bei der wir ja gerade erst beobachten konnten, dass sie alles andere als unangreifbar ist. Ich tendiere zunehmend dazu, anzunehmen, dass die Krim nicht einfach nur
ein für Russland relevantes Gebiet in diesem Konflikt sind, sie ist
das relevante Gebiet und die Relevanz der jüngst annektierten Regionen ergibt sich komplett aus der Relevanz der Krim.
Ich erhebe natürlich nicht den Anspruch, die Motive der russischen Führung komplett, zweifelsfrei und problemlos durchschauen zu können, es ist absolut möglich, dass ich hier falsch liege. Aber je mehr ich mich z.B. damit befasse, wie Russland seit 2014 mit Blick auf die Ukraine und speziell den Konflikt im Donbas agiert und v.a. wie man nicht agiert hat (bzw. bis wann), wenn ich mir z.B. anschaue, wie schnell man nach Beginn der Invasion den Plan, Kyiv einzunehmen, aufgegeben hat oder z.B. wie man im Norden links und rechts eroberte Gebiete aufgab, als die ukrainische Gegenoffensive Fahrt aufnahm, aber in Cherson (Berichten zufolge) einen Rückzug verbietet, je mehr ich sehe, umso schwerer fällt mir eine Einschätzung in der die Sicherung der Krim (+ Infrastruktur für die Versorgung) lediglich ein weiteres Motiv für den Angriffsbefehl im Februar war und nicht das eine zentrale und auschschlaggebende. Natürlich hätte man diese Ziel deutlich leichter (und nachhaltiger) erreicht, wenn man es geschafft hätte, die ukrainische Führung zu köpfen (und sei es nur im übertragenden Sinn) und durch eine Marionette zu ersetzen, aber das hat aufgrund der, wie du sagst, desaströsen Leistung der eigenen Armee (gepaart mit nicht abnehmender Unterstützung durch den Westen) eben nicht geklappt. Aber zumindest hat man nun die relevanten Gebiete. Noch.
Der Preis, den man letztendlich gezahlt hat, war, wie oben gesagt, in jeder Hinsicht hoch, doch selbst wenn er von der russischen Führung insgeheim als zu hoch bewertet werden würde, wüsste ich nicht, wie man das dadurch ausgleichen könnte, dass man im Falle einer von der Ukraine angenommenen Waffenruhe eben diese bricht und erneut als Aggressor auftritt. Man hat es schon unter besseren Startbedingungen nicht geschafft, die Ukraine zu überrollen.