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Das steht in den Corona-Protokollen des RKI
Das Medium eines rechten Verschwörungstheoretikers hat die Corona-Protokolle des Krisenstabs am Robert Koch-Institut herausgeklagt. Was verraten die Dokumente über die Rolle der Behörde in der Krise?
War es sinnvoll, in der Pandemie FFP2-Masken zu tragen? Was taugte der Coronaimpfstoff von AstraZeneca? Und wie kam es zum ersten »Lockdown« vor fast genau vier Jahren?
Um Antworten auf diese Fragen zu finden, hat das Medium eines rechten Verschwörungstheoretikers die Herausgabe von Dokumenten des Corona-Krisenstabs beim Robert Koch-Institut (RKI) erwirkt. Zahlreiche Passagen wurden geschwärzt. Aus dem Material geht dennoch hervor, mit welchen Themen sich das Expertengremium in der Pandemie beschäftigte und welche Argumente ausgetauscht wurden. »ZDFheute« berichtete
am Sonntag von »den brisanten Corona-Protokollen des RKI«, die »Bild« schrieb , die Protokolle seien »politischer Sprengstoff«, und auch in sozialen Netzwerken wird heftig darüber diskutiert.
Die Pandemie wirkt bis heute gesellschaftlich und politisch nach. Rechte Gruppen und Verschwörungstheoretiker haben damals Auftrieb bekommen. Noch immer versuchen sie, die Geschehnisse rückblickend umzudeuten. Ein weitverbreitetes Narrativ: Die Regierung hat absichtlich Informationen unterschlagen und das Volk für dumm verkauft.
Die nun öffentlich gewordenen Dokumente zeigen, dass Fehler passiert sind. Etwa bei der Bewertung von Masken oder als es darum ging abzuschätzen, wie sich das Virus ausbreitet. Sie legen aber vor allem offen, wie der Corona-Krisenstab des RKI in einer Phase, in der noch vieles unklar war und es keine wirksamen Impfstoffe gegen den neuen Erreger gab, intensiv diskutiert und abgewogen hat.
Die Sache mit dem »Lockdown«
Anhand der Unterlagen lässt sich nachverfolgen, wie schnell und dramatisch sich die Lage entwickelte. Noch Mitte Januar bewertete das RKI die Gefahr, dass das Virus nach Deutschland kommt, als »gering«, das Risiko der Weiterverbreitung in der deutschen Bevölkerung als »sehr gering«. Dann kam das Virus doch zu uns, der Kreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen wurde zu Karneval im Februar der erste Coronahotspot. Menschen wurden krank. Die Situation spitzte sich zu.
Für die Mitglieder des Krisenstabs eine heikle Situation. Am 27. Februar ist in den Dokumenten festgehalten, »zur Evidenz der Wirksamkeit von Quarantänemaßnahmen (z.B. Abriegelungen) gibt es keine Informationen«. Erkenntnisse einer Studie zu Ebola seien schwer übertragbar.
Studien wurden erwähnt und abgewogen. Es gab damals wenig gesicherte Erkenntnisse, keine Evidenz, trotzdem musste gehandelt werden.
Am 28. Februar ging es darum, wie Kliniken arbeiten sollen. »Separierung von Corona-Patienten von anderen ist oberstes Gebot« heißt es. Und: »Coronavirus anders als Influenza«.
Immer wieder wurde in jenen Tagen über den Umgang mit Massenveranstaltungen beraten. Etwa am 2. März: »Aufgrund der zunehmenden Ausbreitung sollte überlegt werden, welche regelmäßigen Veranstaltungen, bei denen viele Menschen zusammenkommen, stattfinden.« Das RKI selbst hielt »wenn möglich« virtuelle Veranstaltungen ab, auf »Begrüßungsrituale (Umarmungen, Hände schütteln)« sollte weitestgehend verzichtet werden.
Am 5. März hält das Protokoll fest: »Weltweit 95.413 (+2.234), davon 3.285 Todesfälle (+82), Fallsterberate 3,4%.« Es wurden jetzt jeden Tag mehr, und es starben viele Menschen.
Am 9. März diskutierte der Krisenstab »Exit Screenings« für den Flughafen Düsseldorf, also die Kontrolle von Menschen, die von dort abfliegen. Am 11. März heißt es: »Verlangsamung ist die zentrale Komponente«. Es gelte immer:
»Reduzieren von Kontakten
Schutz vulnerabler Gruppen
Entlastung medizinischer Versorgungsstrukturen«.
Von Besprechung zu Besprechung steckten sich mehr Menschen an, die Eskalation lässt sich auch in den Protokollen und den diskutierten Maßnahmen ablesen. »Bevölkerungsbasierte Maßnahmen: Großveranstaltungen grundsätzlich absagen, Schulschließungen in besonders betroffenen Gebieten, reaktive Schulschließungen in Gebieten, die nicht besonders betroffen sind, sind nicht empfohlen.«
Aus den Protokollen wird klar: Die Experten nahmen die Lage sehr ernst. Sie drängten aber nicht ungeduldig und blind auf immer strengere Regeln – und dachten früh darüber nach, unter welchen Umständen Maßnahmen zurückgenommen werden könnten.
Manchmal irrten sie, weil die Situation unübersichtlich, das Virus noch neu war. Am 23. März wurde eine Aerosol-Studie diskutiert. Heute weiß man: Das Virus schwebt in der Luft, Aerosole sind der Hauptübertragungsweg. Damals schreibt das RKI: »Es handelt sich über (sic) einen Übertragungsweg, der nicht die normale Situation darstellt, aber was ggf. für Zahnärzte, Ärzte, die Bronchoskopien durchführen, relevant sein kann.«
Am 16. März hält der Krisenstab fest: »Am WE wurde eine neue Risikobewertung vorbereitet. Es soll diese Woche hochskaliert werden. Die Risikobewertung wird veröffentlicht, sobald (geschwärzter Name) ein Signal dafür gibt.« Sechs Tage später, am 22. März 2020, verkündet die Bundesregierung nach Besprechung mit den Ministerpräsidenten, was öffentlich »Lockdown« genannt wird. Ein Begriff, der in den Protokollen fehlt, jedenfalls in jenen Passagen, die nicht geschwärzt sind.
Allerdings führt der geschwärzte Name nun zu Spekulationen. Hat hier die Regierung Einfluss auf die Risikobewertung des RKI genommen und sich selbst die fachliche Grundlage für die kurz darauf eingeführten Einschränkungen des öffentlichen Lebens geschaffen?
»Es handelt sich bei dem geschwärzten Namen um eine Person aus dem RKI«, schreibt die Behörde auf Anfrage des SPIEGEL. Die Entscheidung, die Risikostufe auf »hoch« zu setzen, sei von der Institutsleitung des RKI auf Basis der »epidemiologischen Gesamtlage« getroffen worden. Präsident der Behörde war damals Lothar Wieler, sein Stellvertreter der heutige Präsident Lars Schaade. Einen Namen nennt das RKI jedoch nicht explizit.
Die Sache mit den Masken
Einblicke geben die Dokumente auch in die Maskendiskussion der ersten Pandemie-Monate. Das RKI verhielt sich hier lange ambivalent und kommunizierte missverständlich. Die Kritik daran ist bekannt, die Protokolle unterstreichen, wie der Corona-Krisenstab sich offenbar von der Tatsache beeinflussen ließ, dass Masken in Deutschland auch aufgrund politischer Versäumnisse rar waren. Zunächst sollte deswegen wohl sichergestellt werden, dass Personal in Kliniken über genug Schutzmaterial verfügt.
Dass das RKI in der Maskenfrage zunächst zurückhaltend ist, macht es von oberster Stelle früh in der Pandemie klar: Ende Februar 2020 erklärt der damalige RKI-Präsident Lothar Wieler öffentlich, für Personen mit Husten und Schnupfen seien Masken zu empfehlen, aber: »Für den Alltag, für den Umgang hier in der Region, wenn wir unser Leben gestalten, durch die Gegend fahren, gibt es keinerlei Evidenz, dass das in irgendeiner Weise hilfreich ist.« Gründliches Händewaschen, in die Armbeuge niesen und als Erkrankter zu Hause bleiben nennt er als wichtigste Maßnahmen.
Etwa einen Monat später befasst sich der Corona-Krisenstab länger mit dem Thema, im Protokoll wird das Ringen des Gremiums deutlich: »Wenn es mehr infizierte gibt, laufen auch mehr Ausscheider rum, Thema wird relevanter und muss erneut bedacht werden«, heißt es in dem Dokument vom 19. März, drei Tage vor dem ersten Lockdown in Deutschland. »Spätestens wenn Masken wieder besser verfügbar sind, sollte das Tragen stärker propagiert werden.« Stoffmasken werden als »mögliche Alternative« genannt.