ThomasM hat geschrieben:Hallo Savonlinna
Hallo Thomas!
Ich unterscheide mal bei dem Vergleich von Natur- und Geisteswissenschaften zwei Herangehensweisen:
1. Man nimmt die jeweiligen Untersuchungsobjekte oder -felder in den Blick
2. Man nimmt die Methoden und deren Voraussetzungen in den Blick.
Du nimmst zunächst 1. in den Blick:
ThomasM hat geschrieben: Die erste Klasse würde ich als die der "Realwissenschaften" bezeichnen. Das sind die Wissenschaften, die sich mit einem realen Gegenstand beschäftigen. Natürlich gehören die Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie, Geologie, Paläontologie, Astronomie, usw.) dazu, aber auch Geschichtswissenschaften (naturwissenschaftliche Erkenntnisse haben bedeutenden Einfluss auf geschichtliche Schlussfolgerungen), Psychologie (Gehirnvorgänge haben wichtige psychologische Schlussfolgerungen), Mathematik (Physik und Mathematik haben sich immer schon gegenseitig befruchtet), Medizin (sollte klar sein), Soziologie (man denke nur an die Befruchtung durch Evolution) usw.
Eventuell würde ich da etwas anders bezüglich des Untersuchungsobjektes oder Untersuchungsfeldes unterscheiden:
1.1 Dinge, die nicht der Mensch gemacht hat - Baum, Stern, Stein
1.2 Dinge, die der Mensch gemacht hat - Gedicht, Wirtschaftsstystem, Auto
Das ist aber auch noch nicht ausreichend, denn man kann - und muss - auch unterscheiden, ob der Gegenstand lebendig ist oder nicht, und ob das Lebendige menschlich ist oder nicht.
So ist die Psyche zwar nicht vom Menschen gemacht und würde unter 1.1 laufen, ist aber Teil des Menschen.
Und das Auto ist zwar vom Menschen gemacht - läuft also unter 1.2., ist aber nicht Teil des Menschen.
Die von Dir aufgeführten Wissenschaften beschäftigen sich teilweise mit 1.1., teilweise mit 1.2, darum kann man dann auch innerhalb der Wissenschaften die Gegenstände unterscheiden, und das tut man auch.
Und man kann ein und dasselbe Objekt - das Sprechen zum Beispiel - physisch untersuchen (wie ist das Sprechen durch die Bildung des Kehlkopfs möglich, Bereich Medizin oder Physiologie) und nicht-physisch (wie entsteht das System Sprache (Linguistik), wie beeinflussen verschiedene Sprachen das Denken (Philosophie), wie beeinflusst die jeweilige Sprache die Art der Dichtung (Literaturwissenschaft).
Dieser Problematik wird heute, wenn ich das richtig checke, durch interdisziplinäre Zusammenarbeit Rechnung getragen, auch wenn das vielleicht erst langsam im Entstehen ist.
Thema "Auto" also kann unter dem Aspekt der Wirtschaft, der Mechanik, gesellschaftlicher Bedürfnisse, psychischer Bedürfnisse (Statussymbol) etc. betrachtet werden.
Gegenstände, die der Mensch gemacht hat, sind also immer auch FÜR den Menschen gemacht und fallen darum beim Thema "Buch" gleichzeitig unter "Buchherstellung" - Produktionsformen - als auch unter Literaturwissenschaft
ThomasM hat geschrieben:Ich sehe aber nicht, inwiefern die "Realwissenschaften" Einfluss auf die "Gedankenwissenschaften" haben würde (oder umgekehrt). Würde denn eine Erkenntnis meinetwegen in der Physik in irgendeiner Weise Einfluss auf das haben, was man bei einer Textanalyse herausarbeitet? Ich habe den Eindruck, dass hier eine Barriere existiert, die mir immer noch unüberwindbar erscheint.
Man kann das eigentlich fast umgekehrt sehen.
Bislang haben immer die Naturwissenschaften die Marschrichtung für die Geisteswissenschaften angegeben.
Die Biologie - mit der Untersuchung organischer Formen - hat die Geschichtswissenschaft beeinflusst, indem man nun auch in den geschichtlichen Epochen organische Abläufe unterstellte.
Die Physik des 19. Jahrhunderts bewirkte flugs den Positivismus sowohl in der Philosophie als auch in der Literaturwissenschaft, indem man in beiden Fällen meinte, der Mensch würde genauso mechanisch funktionieren: man könnte fast im Voraus berechnenen, welch ein literarischer Werk ein Mensch produzieren würde, wenn man weiß, welche Erbanlagen und Kindheitseinflüsse dieser habe.
Der Positivismus ist in der Literaturwissenschaft nach 1945 ein no-go geworden, weil man ja auch in der Naizeit annahm, dass Rasse bestimte Denkformen erzwinge.
In der Philosophie ist die Beeinflussung durch die Naturwissenschaften noch viel deutlicher, aber das schreibst Du ja selber.
ThomasM hat geschrieben:Die einzige Wissenschaft, die hier eine Brücke bauen kann, wäre vielleicht die Philosophie. Sie ist definitiv von den Naturwissenschaften stark beeinflusst worden, aber ich sehe auch Verbindungen hin zur Textwissenschaft (z.B. durch die Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Denken).
Da käme ich jetzt nun zu meinem Punkt 2.
Ich bin nämlich der Meinung, dass diese einseitige Beeinflussung der Geisteswissenschaften durch die Naturwissenschaften sich als menschenfeindlich herausgestellt hat, seit Kriegsende auch in dem Punkt neu gestartet wurde, allerdings in mancher Hinsicht heute wieder ausgebuddelt wird, weil man sich erneut den Einfluss der Naturwissenschaft auf das humanum wünscht. Was in meinen Augen die gleiche, wenn nicht noch eine schlimmere menschliche Katastrophe und Tragödie nach sich ziehen würde als in den Dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts.
ThomasM hat geschrieben:Es ist diese von mir formulierte Barriere, die mein Ansinnen darstellt.
Ist sie real? Kann sie überwunden werden?
Das war der Antrieb, warum ich mich für den thread hier interessiert habe.
Meines Erachtens existiert diese Brücke schon, zumindest im Ansatz - aber nicht über die Untersuchung der Objekte, unter Hegemonie der Naturwissenschaften oder der Geisteswissenschaften, sondern durch Reflexion der Methoden.
Die Wissenschaftstheorie reflekitert, dass ALLE Wissenschaften aus der Erkenntnistheorie entstanden sind, auch die Naturwissenschaften.
Der von mir öfter erwähnte "linguistic turn" macht bewusst, dass auch die Naturwissenschaft sich in Sprache ausdrücken muss und dass das Resultat DEUTUNG ist.
Bei Dir renne ich da wahrscheinlich offene Türen ein, weil Du darum weißt.