Hallo,
ich mache jetzt mal da weiter, wo ich mit der Beantwortung des posts von Thomas vom Sa 25. Apr 2015, 17:30 aufgehört habe.
Und mir liegt ebenfalls daran, dass dieses so interessante Threadthema nicht unterlaufen wird mit Themen, die ohnehin in jedem Thread drankommen. Das Threadthema untersucht die Parallelen zwischen Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft. Und damit natürlich auch die Unterschiede, aber eben auch das Gemeinsame.
Teil 1
ThomasM hat geschrieben:Savonlinna hat geschrieben:
Mein „Unbehagen“ oder „ungutes Gefühl“ jedenfalls betrifft das Herausbrechen bzw. Isolieren eines Elementes aus dem Zusammenhang, ohne dass dieser Zusammenhang mit in die Untersuchung eingeht.
Meine Frage:
Ist das nicht eine wesentliche Eigenschaft der Wissenschaft und tun das die Geisteswissenschaftler nicht auch ständig?
Ganz sicher bin ich nicht, wie Du Deine Frage gemeint hast. Fragst Du, ob es eine wesentliche Eigenschaft der Wissenschaft sei, den Zusammenhang
nicht mit in die Untersuchung eingehen zu lassen, oder gerade, ihn mit eingehen zu lassen?
Wie auch immer: in der Literaturwissenschaft und in der Sprachwissenschaft ist der Zusammenhang existentiell. Er kann nicht ignoriert werden.
Ich führe mal als Beispiel die Sprachtheorie von Ferdinand de Saussure an, die dermaßen eingeschlagen hat, dass fast alle Geisteswissenschaften sich davon haben befruchten lassen, möglicherweise auch einige Naturwissenschaften, aber letzteres müsste ich erst recherchieren.
Kurz hinzufügen muss ich, dass de Saussure nur in Mitschriften seiner Studenten überliefert ist, wo sich später herausgestellt hat, dass nicht alles auf de Saussure selber zurückgeht. Darum bezeichne ich mit "de Saussure" jetzt bequemerweise das, was so stark gewirkt hat, auch wenn es irrtümlicherweise auf einen anderen Autor zurückzuführen wäre.
Ich nehme das Beispiel, das "de Saussure" als Beispiel für das "System Sprache" benutzt hat: das Schachspiel.
Das Schachspiel ist ein System, in dem die Einzelteile nicht durch die Materialität definiert sind, sondern durch ihre
Funktionen.
Dem Läufer wurden bestimmte Funktionen zugewiesen, aber ich kann die sinnlich erfahrbare Figur des Läufers auch durch ein Stück Holz mit einer bestimmten Farbe ersetzen, und das Spiel funktioniert trotzdem.
Damit wurde die bisherige Sprachwissenschaft, die rein diachronisch betrieben wurde - wie hat sich etwas im Laufe der Zeit verändert -, durch eine synchrone Betrachtungsweise ergänzt - wie funktioniert ein Einzelaspekt funktional
innerhalb des Sprach
systems.
Dadurch kommt in den Blick, was bisher außen vor gelassen wurde: wie
funktioniert Sprache.
Zum Beispiel funktioniere sie so, dass sie binär arbeite:
schwarz/weiß, gut/böse, müde/nicht müde, tot/nicht-tot etc.
Dies wurde von einigen darauf aufbauenden Sprach- und Kulturwissenschaftlern als Teil unserer Geistesstruktur angenommen: unser Geist könne nicht anders, als in Gegensatzpaaren zu denken; dies liege nicht in den Dingen, sondern in unserer mentalen Wahrnehmung und Klassifizierung.
Verändere ich also mein Verstehen von "böse", verändere ich automatisch mein Verstehen von "gut".
Letztlich kann ich innerhalb eines - meist unbewusst benutzten - synchronen Sprachsystems keinen Einzelbegriff ändern, ohne dass das Auswirkung auf andere Bedeutungsträger, also Begriffe, hat.
Die synchrone Sprachanalyse hat eine Art Baumstruktur entwickelt, in der diese "Tiefenstruktur" der Sprache - die Beziehung der Einzelteile zueinander innerhalb eines Systems - beschrieben wird.
Kulturwissenschaftler fassten "Sprache" etwas allgemeiner und zeigten auf, dass auch eine Kultur eine "Tiefenstruktur" hat.
Diese Grundideen hatten mehr oder weniger Einfluss auf sämtliche Kulturwissenschaften, wurden weiterentwickelt etc.
Damit kann ich aber natürlich nicht widerlegen, dass es einzelne Geisteswissenschaftler gibt, die so tun, als würden Einzelteile unabhängig vom Ganzen existieren und wären als solche verstehbar.
ThomasM hat geschrieben:Savonlinna hat geschrieben:Was ich an dieser „Methode“ ablehne, ist: dass man ein Netz über ein Werk wirft und das einfängt, was dem entworfenen Modell entspricht. Alles andere geht durch das Netz durch, wird automatisch aussortiert. Was also theoretisch gegen die Bejahung der gestellten Frage spräche, kommt gar nicht in den Blick.
Und da vor allem das nicht, was auch ein Wesen von dichterischen Werken ist: dass sie sich durch innere Zusammenhänge auszeichnen. Kein Element des Werkes ist als isoliertes Element beschreibbar, es ist immer Teil eines Gefüges.
Kannst du deinen letzten Satz begründen oder gar beweisen?
Abgesehen von oberen Ausführungen meinerseits:
Nehme ich mal den Krimi. Der hat ja schon von Haus aus eine gewisse Struktur: ein Mörder muss her, ein Ermordeter, ein Aufklärer des Mordes.
Die drei bedingen einander, der eine macht ohne den anderen keinen Sinn.
Auch die Charakterisierungen der drei bedingen einander: ist der Aufklärer - sagen wir mal, Sherlock Holmes - besonders klever, macht es mehr Lesespaß, wenn auch der Mörder besonders klever ist.
Das Krimigenre - das System - bedingt also die Auswahl der Charaktere.
Und umgekehrt: analysiert man die Beziehungen der Figuren untereinander, kann man erschließen, welche Art des Krimigenres hier vorliegt.
Zweites Beispiel: Goethes "Faust".
Die beiden Hauptfiguren Faust und Mephisto sind unabhängig voneinander gar nicht zu verstehen. Nur beide zusammen machen das aus, was das Werk transportiert: dass Faust auch eine mephistophelische Seite hat, gegen die er ankämpft.
Dann kommt Gretchen ins Spiel: von Mephisto instrumentalisiert, um in Faust sinnliches Begehren zu wecken und ihn von seinem Erkenntnistrieb "zu befreien". Das gelingt teilweise, aber Mephisto hat nicht damit gerechnet, dass Liebe zwischen den beiden entsteht.
Die Gretchen-Figur also ist innerhalb des literarischen Konzeptes diejenige Figur, die wie ein Katalysator die inneren Konflikte Fausts sowohl zuschärft als auch klärt.
Im Übrigen ist das Einbeziehen des Zusammenhanges auch in den
Gesellschaftswissenschaften so, und vielleicht sollte man auch die in die Diskussion einbeziehen, weil sie den Naturwissenschaften in dem Punkt ähnlicher sind, wenn sie etwas untersuchen, das nicht "fiktiv" ist.
Nehmen wir einen "Schwerverbrecher", der im Gefängnis einsitzt und akzeptiert hat, dass er an Gruppentherapie teilnimmt. Das heißt, er möchte weg von seinen zwanghaften Aggressionen, die immer wieder zu Schwerstverletzungen anderer geführt haben.
Solche Therapien beziehen den Gesamtzusammenhang dieser Einzelperson zu Systemen wie "Familie", "Gesellschaft", "Kultur" ein.
Aber auch hier werden selbstverständlich - wie Du, Thomas, es in den Naturwissenschaften beschreibst -
"Modelle" von Familie, Gesellschaft, Kultur benutzt. Anders geht es auch gar nicht. Man kann alle drei nicht objektiv erfassen, sondern immer nur in Abbildung unter bestimmter Perspektiven.
Und die Modelle erweisen sich dann als "tauglich", wenn der Verbrecher sich von seinen Zwängen lösen kann.
Allerdings werden diese Modelle nie einfach nur "definiert", sondern sie entstehen bereits durch Erfahrung.
Man kann beobachten, nur als Beispiel, dass viele Verbrecher sich an gewissen gesellschaftlichen Zwängen reiben, zum Beispiel an hierarchischen Strukturen der Berufswelt. Da besteht also schon mal eine Beziehung, die in das "Modell Gesellschaft" eingehen wird.
Allerdings ist das innere Gefüge eines Schwerverbrechers dermaßen komplex, dass ein einziges Modell nicht ausreicht. Ein Familienmodell muss hinzutreten, aber auch ein innerpsychisches. Denn nicht jeder schlägt ja Leute zum Krüppel, wenn er in der Familie Hass entwickelt hat.
Die Modelle entstehen also aus dem ständigen Wechsel von "die Tiefenstruktur einer Gesellschaft herausfinden" und der Korrektur dieser Tiefenstruktur durch Erfahrung, Empirie.
- Teil 2 folgt