Re: Kain
Verfasst: So 18. Sep 2022, 14:27
was auch nur eine Auslegung ist - allerdings die gängigste
KAIN
Die Tora berichtet die Geschichte von Kain folgendermaßen:
„Und im Laufe der Zeit geschah es, daß Kain Gott von den Früchten des Feldes ein Opfer brachte. Und auch Abel opferte eine Erstgeburt seiner Herde, ein junges Masttier. Und der Herr hatte Gefallen an Abel und seinem Opfer; aber an Kain und seinem Opfer hatte er keinen Gefallen. Daher war Kain äußerst verstimmt und seine Miene war düster. ... Und Kain sagte zu seinem Bruder Abel: Laß uns hinaus aufs Feld gehen; und so geschah es ... Kain erhob sich gegen seinen Bruder Abel und erschlug ihn. ... Und der Herr sagte zu Kain, Wo ist dein Bruder Abel? Und er sagte, Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders? ... Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden ... Und der Herr machte dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn findet.“ Genesis 4:2-16, Lamsa
Warum nahm Gott Abels Opfergabe an und wies Kains Ackerfrüchte zurück? Wenn Adam und Eva das erste Paar der Menschheit waren, vor wem fürchtete sich Kain dann? Welche Bedeutung verbirgt sich hinter dieser Geschichte?
Diese kurze Erzählung gehört zu einem typischen Sagengenre des Nahen Ostens. Wir dürfen sie nicht als ein historisches Ereignis auffassen. Sie ist einer der vielen meisterhaft erzählten biblischen Texte, die von Begehren, Neid, Rivalität und Gewalt handeln. In der heiligen Tradition des alten Israels diente die Erzählung als Gründungsereignis. Opferkult, sein Vollzug und Brudermord sind grundlegende religiöse Themen.
Bisher wurden keine direkten Parallelen zu Genesis 4:2-16 gefunden. Das heißt jedoch nicht, daß es keine der israelitischen Erzählung ähnlichen Sagen gab. Es gibt eine alte persische Geschichte über drei Brüder, die ihren Weg in die Welt gehen, Der Vater der drei Jungen bevorzugt den Jüngsten, und das erweckt in den beiden älteren Neid. Schließlich ermorden die älteren Brüder ihren jüngeren Bruder. Auch ägyptische und phönizische Mythen erzählen Zwei-Brüder-Geschichten. Der Unterschied ist: Der biblische Text stellt sich, im Gegensatz zu anderen Göttermythen und „Zivilisationssagen“, auf die Seite des Opfers. Diese Sage ist ein kurzes Epos, das den Beginn der Zivilisation beschreibt. Es ist ein alter religiöser Kommentar zu einem grundlegenden menschlichen Problem: Gewalt.
„Nach vielen Tagen geschah es nun, daß Kain Yahwe [mariyah] von den Früchten des Feldes eine Gabe brachte. Und ebenso tat auch Abel [havel], er brachte eine Erstgeburt seiner Herde, das fetteste Tier. Und Yahwe freute sich über Abel und seine Gabe, über Kains Gabe aber freute er sich nicht. Daher war Kain äußerst verstimmt, und seine Erscheinung war düster.“ Genesis 4:3-5, Peschitta
Dem Text nach bevorzugt Yahwe (der Herr) die Gabe Abels. Warum lehnte der Herr das eine Opfer ab und nahm das andere an? DerVerfasser der Tora verschweigt den Grund. Jahrhundertelang stellten Exegeten der Bibel Vermutungen darüber an, warum Gott Kains Gabe ablehnte. Niemand weiß es wirklich. Offensichtlich enthielt diese Geschichte mehr Einzelheiten, bevor sie Teil der Genesis wurde. Der Verfasser der Tora verdichtete absichtlich die Erzählung.
Was wir aus diesem Teil der Erzählung lernen können, ist: Der Verfasser läßt Gott eine Rolle spielen. Es mag oder mag auch nicht eine Rechtfertigung fürYahwehs Bevorzugung geben. Entscheidend ist, seine Wahl erweckte in Kain Neid, Rivalität und das Gefühl, abgelehnt worden zu sein. Ein Gefühl, ungleich behandelt worden zu sein, setzt in Kains Leben eine Zäsur: Nun hat Kain eine Wahl. Wie wird er sich verhalten? Wird er seinen Bruder durch eine Gewalttat beseitigen? Oder wird er einen anderen Weg finden?
Wir Menschen werden in unserem Leben häufig mit ungleicher Behandlung konfrontiert und müssen Entscheidungen treffen. Werden wir aufgebracht Gewalt anwenden, oder werden wir in uns eine Kraft entdecken, die sich über Neid, Rivalität und Vergeltung erhebt? Wir wissen, was Kain zustieß — die scheinbare Geschichte der Zivilisation. Lesen wir weiter:
„Und Kain sprach zu Yahweh: Mein Verbrechen ist zu groß, um vergeben zu werden. Siehe, du hast mich an diesem Tag vom Angesicht des Ackers vertrieben; und vor Deiner Gegenwart muß ich mich verbergen; und ich werde über die Erde ziehen und von hier nach dort wandern. Nun wird es geschehen, daß mich jeder, der mich findet, töten wird. ... und Yahwe machte Kain ein Mal [Zeichen], damit nicht jeder, der ihn findet, ihn erschlägt.“Genesis 4:13-14, Peschitta
Vor wem fürchtete sich Kain? Und wo fand Kain eine Frau? Gewöhnlich werden diese beiden Fragen gestellt. Wir dürfen nicht vergessen, daß diese Erzählung ein prähistorische Begebenheit schildert. Sie übermittelt eine heilige Geschichtslektion, keine historische Tatsache. Sie richtet sich gegen Gewalt und Blutrache. Der Verfasser der Tora beschreibt keine historischen Personen namens Kain und Abel. Die oben genannten Fragen verfehlen das Anliegen der Geschichte.
Das Kainsmal
Noch bis in die jüngste Zeit hinein versahen in semitischen Ländern Gesetzeshüter Mörder mit einem Brandzeichen, so wie man Tiere mit einem Brandmal kennzeichnet. Dieses Mal gab Zeugnis, daß der Kriminelle die rechte Strafe für sein Vergehen erhalten hatte. Noch heute werden in einigen moslemischen Ländern Räuber und Kriminelle für ihreVerbrechen bestraft, indem ıhnen Nase, Beine, Hände oder Arme abgeschnitten werden.
Kain war sich bewußt, daß er das Land Eden verlassen und zu einem Wanderer werden mußte. Mit seiner Verurteilung, Vagabund zu sein, brauchte er Schutz. Flieht im Nahen Osten ein Mensch aus seinem Land und sucht bei einem fremden Volk Zuflucht, möchte jeder den Grund wissen, denn jeder, der seine Verwandten, Traditionen und Religion verläßt, ist verdachtig. Man hält ihn für einen Gesetzlosen und der ist unerwunscht. Kain wollte Gottes Zusicherung, daß Fremde ihn nıcht toten würden.
Kain wurde aus dem Land Eden verbannt, und sein Mal war der Beweis (das Zeichen), daß er seine Strafe erhalten hatte. Exil kam in der antiken Welt einem Todesurteil gleich. Gott versicherte Kain, daß jedem, der ihn erschlüge, die siebenfache Bestrafung zustoßen würde. „Sieben“ ist eine heilige Zahl, und Menschen des Nahen Ostens konnten ihre Bedeutung der Geschichte Kains.
(Rocco A. Ericco „Es werde Licht - Sieben Schlüssel zum Verständnis der aramäischen Bibel)
https://www.maurer.press/bucher/es-werde-licht/