Nun, in deiner Idee eines "historischen Jesus" musst du im Grunde den Vorgang einer religiösen Aufhübschung, als Gaunerei einstufen.
Insofern verstehe ich deine Position - aber: ich sehe den historischen Jesus nicht und damit verändert sich das Bild grundlegend.
Ich denke, die Entstehung der Jesus-Geschichte unterscheidet sich nicht vom Entstehen der anderen ("alttestamentaren") Geschichten.
Auch wenn die "Offenbarung des Johannes" zum "neuen Testament" gehört, so verdeutlicht dieses Gesamtkunstwerk sozusagen "das religiöse Prinzip in Reinform".
Gegenüber dieser "Offenbarung" klingen die anderen Texte fast schon "langweilig normal" und selbst Gläubige haben ihre Schwierigkeiten mit diesem Text.
Hier lohnt es sich zu fragen, wie so etwas zustande kommt und wie es sein kann, dass es akzeptiert wird.
Wie kann es sein, dass irgendjemand so ein Zeugs herausplappert und alle anderen fangen an, demütig zu staunen und zu glauben?
Mehrere Komponenten sind wichtig:
- Ein überall akzeptiertes Grundprinzip: "der Empfang von Wahrheiten durch besonders religions-taugliche Menschen"
- Bereits vorhandene religiöse Autorität bzw. religiöser Status beim Aussagen-Erfinder
- Die Überzeugung (Motivation) des Aussagen-Erfinders ein Empfänger zu sein
- Ein Bedarf (Notlage) bei den Zuhörern
Ein "historischer einfacher Jesus" stört diese Komponenten, weil es eine feststellbare Messlatte wäre.
Versuch dir mal vorzustellen, in welcher Intensität diese Komponenten in den ersten Jahrhunderten vorgelegen haben müssen, damit so ein Inhalt wie die "Offenbarung des Johannes" Fuss fassen konnte.
Du gehst bereits von einem gewissen Spektrum an Messias-Vorstellungen aus.
Stell dir vor, eine "empfangsbereite religiöse Autorität" (das kann auch eine elitäre Gruppe sein) kommt durch Nachdenken über die gescheiterten Messias-Versuche und das eigene Verlangen nach Antwort auf "wie konnte das passieren?" zu Erkenntnissen, wie sich die offensichtliche Schwäche des Messias-Umfeldes und das Ausbleiben der unterstützenden göttlichen Reaktion erklären lässt.
Lass diesen Erfinder die gesamte Messiasbewegung in einer einzelnen Messias-Figur verschmelzen. Diese Messias-Figur wird Erfolge haben, aber auch schwach sein und gegenüber einer gewalttätigen Übermacht scheitern. Trotz der Schwäche und religiösen Reinheit wird sie keine Unterstützung Gottes bekommen.
Das Ganze wird sich in Richtung Jerusalem steigern und genau dort den Höhepunkt des Untergangs haben (einfach, weil es genauso war). Der Untergang muss Bestandteil der Geschichte sein, denn er ist geschehen. Aber weil das Messias-Thema nicht aufgegeben werden soll, wird es in einer Auferstehungshoffnung/-behauptung weitergeführt.
Lass diesen Erfinder sich als "Empfänger einer göttlichen Idee" verstehen und seine Weisheit als "frohe Botschaft" weitergeben.
Die Motivation in den Zuhörern ist maximal vorhanden, denn sie tragen alle dasselbe Untergangs-Schicksal. (Sie sind alle auf der Flucht bzw. versklavt und benötigen eine einprägsame Geschichte, um ihre Vergangenheit zu erfassen)
Nach dem jüdischen Krieg (74 n.Chr) begann auf jeden Fall die Notwendigkeit für Glaubensanpassungen und Erklärungen.
Ob man den "Bar Kochba"-Aufstand mit hinzunehmen muss, ist offen. In dieser Zeit (130 n.Chr) könnte es bereits schon zu Parallelitäten in den Messias-Ansätzen gekommen sein, d.h. während es bis Ende des jüdischen Krieges keine Jesus-Christen gegeben haben dürfte, könnte dies 60 Jahre (2-3 Generationen) später schon langsam anders gewesen sein.
In der "Bar Kochba"-Zeit (oder relativ kurz danach) hätte es dann eine Gruppe gegeben, die das Messias-Thema grundsätzlich anders behandelt, als über einen sich "durch Kampf und Erfolg zeigenden Messias".
Man muss das NT bestimmt getrennt nach seinen Teilen betrachten.
Hier geht es dann einzeln um Vergangenheitsandeutungen, Glaubensfestlegungen und Zukunftsbehauptungen.
Später wurde aus diesen Strömungen dann das NT gemacht.
Mit der Behauptung, einen historischen Jesus herauslesen zu können, wird eine Verankerung in der damaligen Zeit beansprucht.
Da es unumstösslich um das Verbreiten des Jesus-Messias-Themas geht, ist es auffällig, wenn man Leuten, die auch eine Messias-Erwartung haben, nicht mitteilt, was sie falsch machen.
Treib das auf die religiöse Spitze: Gott tritt als Messias-Mensch auf und will bekannt werden, kümmert sich aber nicht um Menschen, die auf seine Reaktion warten und einfach nur einen anderen Messias erwarten.
Vorsicht, die Jesus-Antwort auf das Zahlen von Steuern ist das Vermeiden einer Antwort, nicht eine Befürwortung.
Weil du hier aber auch die Szene mit dem Einzug in Jerusalem ansprichst:
Weshalb sollen die Menschen in Jerusalem einen Jesus bejubelt haben, wenn sie mehrheitlich auf einen gewalttätigen Befreier ausgerichtet waren?
Im Jahre 66 n.Chr. zog "Menachem" (ein Zeloten-Anführer) wie ein König in Jerusalem ein, nachdem er erfolgreich die Römer aus "Masada" vertrieben hatte.
"Menachem" wurde zu einem "untragbaren Tyrannen" und geriet in Gegnerschaft zu den Mächtigen des Tempels, wurde von einer Menschenmenge abgelehnt, geriet in Gefangenschaft, wurde gefoltert und hingerichtet - erinnert dich das an etwas in der Jesus-Geschichte (es geht mir nur um die grundlegenden Ereignisse, nicht um die Personen)?
Im übertragenen Sinne kann man im Judentum eine gewisse Gegnerschaft zu den Messias-Versuchen im ersten Jahrhundert finden.
Genau hier kommt man als Messias-Fanatiker in Erklärungsnot, denn es wurde alles unternommen, damit Gott eine Reaktion für sein Volk zeigt - es wurde durch maximale Leidensbereitschaft eine göttliche Königs-Reaktion erhofft.
Für derartige Leute kann es kein "zurück auf Anfang" geben, sondern sie benötigen trotz Untergang einen Ausweg innerhalb des Messias-Themas.
Genau, voll und ganz.
Deshalb verstehe ich nicht, weshalb sich Juden zu Jesus positionieren.
Die vernünftige Aussage lautet: "wir kennen keinen Jesus - unser Vorhang ist nie zerrissen (die Römer haben ihn in perfektem Zustand mitgenommen als sie den Tempel geplündert haben)"
Die Juden können auf Messias-Versuche mit brutaler Quälerei und kämpferischem Abschlachten zurückblicken.