Ein "Vorzeigechrist" ist für mich einer, den ich den "Frommen" zuordne. "Fromm" aber nicht in der alten Bedeutung, früher war das etwas Positives-- sondern eher in Richtung Pharisäer, der so erhaben ist über menschliche Schwächen und Unvollkommenheiten, dass er keinerlei Empathie empfindet für Mitgeschwister, die noch nicht "so weit" sind oder gar für Nichtchristen.
Also jemand, der die Bibel nicht nur einmal, sondern mehrere Male ganz gelesen hat, von vorne bis hinten. Einer, der eine Stunde am Tag betet oder zwei- ein ordentlicher Mensch, bibelfest (den Lehren seiner Denomination gemäß), aber mit anderen Ansichten hat er keine Geduld, die ordnet er dann gleich der Rubrik "verführt" oder "Scheinchrist" zu.
Er trinkt nicht und natürlich raucht er auch nicht. Calvin ist sein Guru.
Da er selbst diszipliniert und willensstark ist und auf der Erfolgsseite des Lebens, kann er nicht nachvollziehen, warum andere Menschen, die Fehler gemacht haben in ihrem Leben, die ihnen nachfolgen.... oder denen das Leben tiefe Wunden geschlagen hat, Probleme haben in ihrer Ehe oder am Arbeitsplatz oder überhaupt. Deshalb neigt er dazu, Angefochtene aufzufordern: "Jetzt reiß' dich halt einmal zusammen" und ihnen zu empfehlen, "mehr zu glauben".
Wenn man einem Vorzeigechristen irgendwo begegnet, schaut er einen so durchdringend an, dass man das Gefühl hat, etwas falsch gemacht zu haben und ein schlechter Mensch zu sein.
Denn wenn man nicht so glaubt und lebt, wie der Vorzeigechrist, ist man automatisch ein Christ der minderwertigen Sorte.
So einer bin ich auch. Zum Beispiel, weil ich nicht dazu bereit bin, die RKK in Bausch und Bogen als "H.B." zu verurteilen sowie Fernseher und Internet als Teufelswerk zu brandmarken. Und weil ich rauche und nicht die Absicht habe, damit aufzuhören. Ersatzweise trinke ich so gut wie nie Alkohol und nehme die Speisegebote ernst, denn die sind schwarz auf weiß und ziemlich deutlich in der Schrift formuliert. Menschengebote kann halten, wer will... so lange er mich damit nicht belästigt.
Wer aber Menschengebote predigt und sich nicht an die geschriebenen Vorschriften hält... sorry, das bzw. so einen kann ich nicht wirklich ernst nehmen.
Es ist nicht sehr angenehm, mit Vorzeigechristen Kontakt zu haben. Irgendwie ist man immer in Versuchung, sich zu rechtfertigen. Aber... wenn man die eigene Meinung zu bestimmten Themen gewissenhaft erarbeitet hat, gibt es doch eigentlich keinen Grund dafür.
Warum ich kein Vorzeigechrist sein will: Weil dadurch eine zu große Kluft zu den Unerretteten entstehen würde. Die
Paulus- Methode halte ich für effektiver. Außerdem möchte ich authentisch sein und nicht in eine künstliche Rolle schlüpfen müssen, um von Mitchristen akzeptiert zu werden. In der Realität lebe ich ein Klosterleben... und das ist schon exotisch genug für die Kinder der Welt, da muss man den Abstand nicht noch künstlich vergrößern.
Vorzeigechristen sind die Streber in der Gemeinde Jesu. Stichwort Marta.
LG