Heilende Religion
Verfasst: Sa 16. Nov 2013, 19:05
Ein Auszug aus dem Vorwort zu Heilende Religion von Eugen Drewermann von Joachim Kunstmann:
"Wenn Glauben als Gegenpol zur Angst verstanden wird, dann ist damit nicht nur eine verbreitete philosophische Einsicht aufgenommen, die die Angst in all ihren Facetten als das tiefste und elementarste menschliche Gefühl überhaupt versteht. Gleichzeitig ist auch eine Kategorie gewonnen, die sich psychologisch einsichtig beschreiben lässt und die den modernen, oft religionsskeptischen Zeitgenossen einen nachvollziehbaren Zugang zur Religion eröffnet.
Dabei muss klar sein, dass sich Angst keineswegs immer als eindeutig identifizierbares Gefühl verstehen lässt. Allzu oft ist sie verdrängt, verschoben, projiziert, also unbewusst. Sie lässt sich oft nur im Rückschluss aus unmenschlichen Verhaltensweisen oder beengenden Gefühlen heraus verstehen - etwa in den heute verbreiteten Gefühlen des Mangels und der Unbehaustheit. Angst ist etwas Ur-Menschliches. Übersteigertes Sicherheitsbedürfnis kann als Folge von Einsamkeits- und Verlassenheits-Angst verstanden werden, das Streben nach Macht und Unterdrückung anderer als Angst, selbst nicht genügend Platz und Anerkennung zu erhalten, usw. Angst zeigt sich noch hinter all den vielen kleinen, meist unbewussten Vermeidungen, die das Leben des Menschen bestimmen, und die ihn unfrei, in sich selbst verschlossen und manipulierbar machen. Das Leben jenseits von Eden trägt die Bilder des verlorenen Paradieses als Wünsche nach Macht, Reichtum und Größe mit sich, die nie endgültig zur Ruhe kommen können. Alle Anstrengungen der menschlichen Kultur bis hin zur modernen Technik vermögen die Angst zwar vordergründig zu besänftigen, sie führen aber notwendig zur Konkurrenz und Streben nach Selbsterhalt, darum zu einer Vermehrung der Angst. Angst ist nie endgültig durch Absicherungen zu überwinden. Gegen Tod, Krankheit und das Gefühl der Sinnlosigkeit gibt es keine tragenden Sicherungen. Darum vermehrt die Kultur, was sie zu überwinden versucht.
Mit dieser Grundlegung ist das Bild eines verwundeten Lebens gezeichnet, das Gott aus den Augen verloren hat. Ausgesprochen plausibel an diesem Denken ist, dass es zwar von Sünde redet, diese aber im Gegensatz zu einem dominierenden Teil der theologischen Tradition nicht als moralische Verfehlung beschreibt, sondern als existenzielle Not. Entsprechend weiß es um die grundlegende Hilflosigkeit aller Moral, deren Appelle den Menschen nicht stützen, sondern im Zweifelsfalle nur noch mehr in die Verzweiflung treiben. Alle Ethik ist - mit Luther zu sprechen - "Gesetz". Allein die Religion, das "Evangelium", vermag den Menschen von seiner Angst zu heilen.
Dass es sich bei derartigen Gedanken nicht nur um archaisch-unverbindliche Philosopheme handelt, sondern diese Deutung gerade mit der Situation des spätmodernen Menschen gegeben ist, zeigt der Blick auf die Entwicklung des menschlichen Lebensgefühls seit der Aufklärung. Deren Befreiung von Vormundschaft, Tradition und Abhängigkeit war zugleich und von Anfang an immer auch ein Wegbrechen von Geborgenheit, Heimat und Sicherheit. Alle Gegenbewegung zu den sich fortsetzenden "Freisetzungsschüben" ( Ulrich Beck ) erscheint als Ausdruck derselben Not: die romantische Gegenidee des Gefühls endet in unstillbarer Sehnsucht; die klassische Bildungstheorie des Wilhelm von Humboldt vermochte die Funktionalisierung des Menschen nicht aufzuhalten; die Kantische Idee eines unbedingten Sollens erscheint als der kaum noch plausibilisierbare Ausdruck prinzipiell gewordener ethischer Unverbindlichkeit. In der französischen Revolution bereits hat sich - offenbar symptomatisch - der Aufbruch in die mündige Freiheit schnell in Terror verkehrt; die gesamte technische Weltbemächtigung des Menschen zeigt inzwischen unheilvolle Dimensionen. Und das Lebensgefühl der Einzelnen scheint neben einem exzessiv gewachsenen Freiheitsspielraum untergründig immer mehr von Gefühlen der Einsamkeit und des Selbstzweifels begleitet. Am Ende steht ein Individuum, das unüberschaubare Möglichkeiten hat und im umfassenden Sinne "seines Glückes Schmiedt" geworden ist - das aber hoffnungslos auf sich selbst gestellt ist, wenn sich das Glück nicht einstellt. Ein Großteil der Philosophie und Kunst des 20. Jahrhunderts liefert entsprechend eindrückliche Bilder der Unbehaustheit.
Drewermann stellt diese Diagnose theologisch unter den Gedanken des Gottesverlustes. Allein das Vertrauen auf den gütigen Geber und Erhalter des Lebens vermag dem Menschen die Angst zu nehmen und ihn leben zu lassen trotz seiner inneren Not."
"Wenn Glauben als Gegenpol zur Angst verstanden wird, dann ist damit nicht nur eine verbreitete philosophische Einsicht aufgenommen, die die Angst in all ihren Facetten als das tiefste und elementarste menschliche Gefühl überhaupt versteht. Gleichzeitig ist auch eine Kategorie gewonnen, die sich psychologisch einsichtig beschreiben lässt und die den modernen, oft religionsskeptischen Zeitgenossen einen nachvollziehbaren Zugang zur Religion eröffnet.
Dabei muss klar sein, dass sich Angst keineswegs immer als eindeutig identifizierbares Gefühl verstehen lässt. Allzu oft ist sie verdrängt, verschoben, projiziert, also unbewusst. Sie lässt sich oft nur im Rückschluss aus unmenschlichen Verhaltensweisen oder beengenden Gefühlen heraus verstehen - etwa in den heute verbreiteten Gefühlen des Mangels und der Unbehaustheit. Angst ist etwas Ur-Menschliches. Übersteigertes Sicherheitsbedürfnis kann als Folge von Einsamkeits- und Verlassenheits-Angst verstanden werden, das Streben nach Macht und Unterdrückung anderer als Angst, selbst nicht genügend Platz und Anerkennung zu erhalten, usw. Angst zeigt sich noch hinter all den vielen kleinen, meist unbewussten Vermeidungen, die das Leben des Menschen bestimmen, und die ihn unfrei, in sich selbst verschlossen und manipulierbar machen. Das Leben jenseits von Eden trägt die Bilder des verlorenen Paradieses als Wünsche nach Macht, Reichtum und Größe mit sich, die nie endgültig zur Ruhe kommen können. Alle Anstrengungen der menschlichen Kultur bis hin zur modernen Technik vermögen die Angst zwar vordergründig zu besänftigen, sie führen aber notwendig zur Konkurrenz und Streben nach Selbsterhalt, darum zu einer Vermehrung der Angst. Angst ist nie endgültig durch Absicherungen zu überwinden. Gegen Tod, Krankheit und das Gefühl der Sinnlosigkeit gibt es keine tragenden Sicherungen. Darum vermehrt die Kultur, was sie zu überwinden versucht.
Mit dieser Grundlegung ist das Bild eines verwundeten Lebens gezeichnet, das Gott aus den Augen verloren hat. Ausgesprochen plausibel an diesem Denken ist, dass es zwar von Sünde redet, diese aber im Gegensatz zu einem dominierenden Teil der theologischen Tradition nicht als moralische Verfehlung beschreibt, sondern als existenzielle Not. Entsprechend weiß es um die grundlegende Hilflosigkeit aller Moral, deren Appelle den Menschen nicht stützen, sondern im Zweifelsfalle nur noch mehr in die Verzweiflung treiben. Alle Ethik ist - mit Luther zu sprechen - "Gesetz". Allein die Religion, das "Evangelium", vermag den Menschen von seiner Angst zu heilen.
Dass es sich bei derartigen Gedanken nicht nur um archaisch-unverbindliche Philosopheme handelt, sondern diese Deutung gerade mit der Situation des spätmodernen Menschen gegeben ist, zeigt der Blick auf die Entwicklung des menschlichen Lebensgefühls seit der Aufklärung. Deren Befreiung von Vormundschaft, Tradition und Abhängigkeit war zugleich und von Anfang an immer auch ein Wegbrechen von Geborgenheit, Heimat und Sicherheit. Alle Gegenbewegung zu den sich fortsetzenden "Freisetzungsschüben" ( Ulrich Beck ) erscheint als Ausdruck derselben Not: die romantische Gegenidee des Gefühls endet in unstillbarer Sehnsucht; die klassische Bildungstheorie des Wilhelm von Humboldt vermochte die Funktionalisierung des Menschen nicht aufzuhalten; die Kantische Idee eines unbedingten Sollens erscheint als der kaum noch plausibilisierbare Ausdruck prinzipiell gewordener ethischer Unverbindlichkeit. In der französischen Revolution bereits hat sich - offenbar symptomatisch - der Aufbruch in die mündige Freiheit schnell in Terror verkehrt; die gesamte technische Weltbemächtigung des Menschen zeigt inzwischen unheilvolle Dimensionen. Und das Lebensgefühl der Einzelnen scheint neben einem exzessiv gewachsenen Freiheitsspielraum untergründig immer mehr von Gefühlen der Einsamkeit und des Selbstzweifels begleitet. Am Ende steht ein Individuum, das unüberschaubare Möglichkeiten hat und im umfassenden Sinne "seines Glückes Schmiedt" geworden ist - das aber hoffnungslos auf sich selbst gestellt ist, wenn sich das Glück nicht einstellt. Ein Großteil der Philosophie und Kunst des 20. Jahrhunderts liefert entsprechend eindrückliche Bilder der Unbehaustheit.
Drewermann stellt diese Diagnose theologisch unter den Gedanken des Gottesverlustes. Allein das Vertrauen auf den gütigen Geber und Erhalter des Lebens vermag dem Menschen die Angst zu nehmen und ihn leben zu lassen trotz seiner inneren Not."