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Marguerite Porète. "Der Spiegel der einfachen Seelen"
Verfasst: Di 3. Dez 2013, 03:12
von Demian
Ein Ausschnitt aus dem Buch "
Der Spiegel der einfachen Seelen": "
DIE LIEBE: Im Gegensatz zur freien Seele kann das Leben, über das wir schon gesprochen haben und das wir »Leben aus dem Geist« nannten, den Frieden nicht haben, wenn der Leib nicht allezeit das Gegenteil dessen tut, was er will. Das heißt, dass solche Leute das Gegenteil ihrer Sinnlichkeit tun, andernfalls sie sich in diesem Leben die Verdammnis zuzögen, lebten sie nicht das Gegenteil ihrer Genüsse. Solche aber, die frei sind, handeln genau entgegengesetzt! Während diejenigen im Leben aus dem Geist das Gegenteil ihres Willens tun müssen, wenn sie den Frieden nicht verlieren wollen, tun die Freien, umgekehrt, alles, was ihnen gefällt, wenn sie den Frieden nicht verlieren wollen, denn sie sind bereits im Zustand der Freiheit angelangt, das heißt, sie sind von den Tugenden in die Liebe gestürzt und von der Liebe ins Nichts.
Sie tun nichts, wenn es ihnen nicht gefällt, und täten sie es, so nähmen sie sich selbst den Frieden, die Freiheit und den Adel. Denn die Seele ist nicht vollkommen geläutert, bis dass sie tut, was ihr gefällt, und bis dass sie keine Reue mehr wegen ihres Tuns empfindet.
Sie hat das Rote Meer überquert, ihre Feinde sind darin umgekommen. Ihre Lust ist Unser Wille auf Grund der reinen Einheit im Willen der Gottheit, in den Wir sie eingeschlossen haben. Ihr Wille ist der Unsere, denn sie ist aus der Gnade in die Vollkommenheit der Tugendwerke gelangt und von den Tugenden in die Liebe und von der Liebe ins Nichts und vom Nichts in die Klarheit Gottes, die durch die Augen seiner Majestät sich selbst schaut und die sie in diesem Punkt durch sich selbst geklärt hat. Sie ist so in ihm aufgelöst, dass sie weder sich selber noch ihn sieht, und darum sieht er sich in seiner göttlichen Güte ganz allein."
Marguerite Porete
Re: Marguerite Porète. "Der Spiegel der einfachen Seelen"
Verfasst: Di 3. Dez 2013, 03:30
von Demian
Ein Kommentar von Simone Weil zu dem Buch, der für sich genommen schon eine Meditation ist: "(Ich bin Gott, spricht die Liebe. Denn die Liebe ist Gott, und Gott ist die Liebe (1 Joh 4, 16)." Das missbrauchte und verbrauchte, das verkannte und verkommene Wort "Liebe" wird in einem spannungsreichen und spannenden Klärungsprozess – er bildet den Inhalt von Marguerites Buch – gereinigt und ganz neu. Die Hauptrednerin des Spiegel, die Liebe, und ihre Schülerin, die in der Gottesliebe nun frei – "einfach" – gewordene Seele, überzeugen die gemeinsame Gesprächspartnerin Vernunft davon, dass ihr in den letzten Fragen zwischen Gott und Mensch nur das vorletzte Wort zukommt. Die Liebe gewinnt ihre göttliche Leuchtkraft wieder.
Das hat mich getroffen. Ein Spiegelblick. Denn die Liebe orientiert auch meine Suche! Die Liebe, die nicht Vorliebe ist, nicht eine göttliche oder menschliche Eigenschaft unter anderen, nicht Selbstverliebtheit in schöne Empfindungen und emotionale Hoch-Zeiten. (Hier waren Marguerite und ich uns völlig einig.) Alle Ereignisse des Lebens sind Zeichen der göttlichen Liebe; in allem, was geschieht, zeigt Gott uns seine Liebe! Der Spiegel ist ein Intensivkurs zum Erlernen jener großartigen, zugleich intimen und Fremd-Sprache, in der Gott ihrem Geliebten immerfort Ich liebe dich sagt."
Re: Marguerite Porète. "Der Spiegel der einfachen Seelen"
Verfasst: Di 3. Dez 2013, 04:20
von Demian
Marguerite Porete
Ich bin durch die Gnade Gottes,
was ich bin.
Also bin ich einzig und allein.
Was Gott in mir ist
und nichts anderes.
Und auch Gott ist eben das,
was er in mir ist.
Denn nichts ist nichts,
doch ist, was ist.
Also bin ich,
sofern ich bin, nur das,
was Gott ist.
Denn, um die Wahrheit zu sagen:
außer ihm ist nichts.
La Branche Marc Chagall
Re: Marguerite Porète. "Der Spiegel der einfachen Seelen"
Verfasst: Di 3. Dez 2013, 04:39
von Demian
1.
Die Seele: Ich bekenne es Euch, Frau Liebe, sagt diese Seele: Es gab eine Zeit, da stand ich im Dienst der Tugenden, aber jetzt hat Eure Vornehmheit mich daraus befreit. Und deshalb kann ich jetzt zu ihnen sagen und singen:
Tugenden! Ich nehme Abschied von euch für immer! Mein Herz ist nun ganz frei und heiter gestimmt. Euer Dienst ist zu beschwerlich, das weiß ich sehr wohl. Früher habe ich mein Herz rückhaltlos an euch gehängt. Ihr wisst, dass ich euch ganz hingegeben war. Ich war eure Leibeigene, aber jetzt bin ich befreit. Mein ganzes Herz hatte ich an euch gehängt, ich weiß es wohl. So lebte ich eine Zeitlang in großer Bedrängnis. Viele Qualen habe ich erlitten und große Schmerzen erduldet. Es ist ein Wunder, dass ich da lebend herausgekommen bin! Nun, so war es, und jetzt, da es vorbei ist, macht es mir nichts mehr aus: Ich bin von euch losgelöst! Dafür danke ich Gott im Himmel – gut war jener Tag für mich! Ich bin eurer Herrschaft entzogen, die mir viel Verdruss bescherte. Niemals war ich freier, als da ich geschieden von euch war. Ich bin aus eurer Gewalt entkommen und ruhe jetzt im Frieden.
2.
Die Liebe: Diese Seele, sagt die Liebe, achtet weder auf Schande noch auf Ehre, weder auf Armut noch auf Reichtum, weder auf Unbehagen noch auf Wohlgefühle, weder auf Liebe noch auf Hass, weder auf die Hölle noch auf das Paradies.
Der Verstand: Ah, um Gottes willen, Liebe!, sagt der Verstand, was soll das heißen, was Ihr da sagt?
Die Liebe: Was das heißt?, sagt die Liebe. Gewiss, das versteht nur derjenige und kein anderer als der, dem Gott den Geist des Verstehens gegeben hat – ihn lehrt weder die Schrift, noch begreift es der menschliche Geist, noch nützt das kreatürliche Bemühen nach Begreifen und Innewerden etwas. Diese Gabe stammt vielmehr vom Allerhöchsten, in den dieses Wesen entrückt wurde durch die Fülle an Erkenntnis, in der nichts von ihrem Eigenen verblieb. Und eine solche Seele, die ein Nichts geworden ist, besitzt dann alles und besitzt doch nichts, will alles und will nichts, weiß alles und weiß doch nichts.
[
Marguerite Porete, Le Miroir des simples âmes anéanties. Auswahl und Reihung: Andreas Marschler. Übersetzung: Siglinde Schnitzler ]
Quelle
Re: Marguerite Porète. "Der Spiegel der einfachen Seelen"
Verfasst: Di 3. Dez 2013, 10:04
von 2Lena
Demian, das klingt alles "wunderschön", aber ich befürchte, die Vorurteile bleiben.
Wenn in deinen Zitaten steht: Ach, die gute Marguerite nahm von den Tugenden Abschied für immer, hat sie dann etwa keine mehr gehabt? Wer der Anweisung folgt, will von allen Tugenden lassen! Vor lauter Übereifer kennt man sie nicht mehr - und bringt einen Bockmist nach dem anderen.
Ich gebe zu, dass derartige Werke mich früher in ein "Hoch" beförderten, aber heute sehe ich das anders. Da saß ich damals auf Wolke drei, in die leider viel Gezänk und die Aburteilung vieler herauftönte: "Hör auf mit dem Krampf!" Ich fühlte mich unverstanden und las dann "Hiob". Wunderbar! Welch ein Trost durch die Bibelsprüche durchdrang...
Heute lese ich Hiob anders.
Die vernünftige Anleitung in der Auslegung aktivierte ein normales Denken.
Es gibt vernünftigere Regeln.
Die einfachen Formeln werden im täglichen Leben gebraucht.
Sich von "Liebe" was vorträumen hilft nicht beim Lösen von Computersorgen, nicht bei Entscheidungen über Bauplänen, nicht bei zickigen Kindern und nicht bei Bauchweh.
Re: Marguerite Porète. "Der Spiegel der einfachen Seelen"
Verfasst: Di 3. Dez 2013, 10:40
von Demian
2Lena hat geschrieben:Demian, das klingt alles "wunderschön", aber ich befürchte, die Vorurteile bleiben.
Das ist natürlich deine Sache.
Die einfachen Formeln werden im täglichen Leben gebraucht.
Sich von "Liebe" was vorträumen hilft nicht beim Lösen von Computersorgen, nicht bei Entscheidungen über Bauplänen, nicht bei zickigen Kindern und nicht bei Bauchweh.
Nicht jeder braucht das Gleiche - Menschen sind ähnlich, aber nicht gleich. Somit wird jeder Mensch ganz eigene Erfahrungen machen ... und er/sie wird versuchen dafür eigene Worte zu finden. Dabei kann jeder nur versuchen einfach zu sprechen; da mystische Erfahrungen aber außerordentlich und einmalig sind, kann man sie auch nicht für alle Menschen allgemeinverständlich ausdrücken.
Das ist eben der Gegensatz zwischen dem "Heiligen" und dem "Profanen/Gewöhnlichen". Auch muss man nicht allen Gedanken von Marguerite Porete zustimmen, genauso wenig wie man allen Gedanken anderer Menschen zustimmen muss. Denken und Fühlen sind dabei in Bewegung ... in einem inneren Zwiegespräch ... es entwickelt sich etwas ... und jeder Mensch wird zu einer ganz eigenen, persönlichen Spiritualität kommen.
Noch ein Hinweis: bitte nicht einzelne Gedanken von Porete - etwa ihre Kritik der "Tugend/Moral" - aus dem Zusammenhang reißen. Dann vertut man nur die Chance zu neuen Einsichten zu kommen. Denn was meint sie damit? Offenbar gibt es für sie etwas, das weit über irgendein tugendvolles Leben hinaus geht - nämlich die Liebe. Wenn man sich manchen buchstabengläubigen Christen anschaut, der so besorgt um sein "richtiges" Verhalten ist ( und das vielleicht nur aus Eitelkeit und Selbstsucht ), dass er letztlich an der Botschaft der Liebe vorbeigeht, dann kann ich der Marguerite nur zustimmen.
Das - selbstverständlich - formuliert sie absichtlich radikal, um herauszufordern.
Re: Marguerite Porète. "Der Spiegel der einfachen Seelen"
Verfasst: Di 3. Dez 2013, 10:49
von Salome23
Nicht jeder braucht das Gleiche - Menschen sind ähnlich, aber nicht gleich.
Somit wird jeder Mensch ganz eigene Erfahrungen machen ... und er/sie wird versuchen dafür eigene Worte zu finden.
Re: Marguerite Porète. "Der Spiegel der einfachen Seelen"
Verfasst: Di 3. Dez 2013, 10:56
von Demian
Ja, es ist immer leichter in der Masse unterzugehen, die Trampelpfade zu gehen, als den eigenen Weg ... und derjenige, der es wagt den eigenen Weg zu gehen, eigene Erfahrungen zu machen und sie auch noch öffentlich zu vertreten, der wird eben mit kritischen Gegenwind rechnen müssen.
Das wird also nur jemand wagen, der entweder wahnsinnig ist - oder wirklich tiefe, authentische Erfahrungen gemacht hat.
Jesus und seine Freunde haben das jedenfalls gewagt ... der Mut zum aufrechten Gang müsste eigentlich Teil des christlichen Glaubensbekenntnis sein?
Re: Marguerite Porète. "Der Spiegel der einfachen Seelen"
Verfasst: Di 3. Dez 2013, 14:47
von 2Lena
Demian, "wunderschön und gut was du schreibst" - hätte ich vor einigen Jahrzehnten geschrieben, wie du heftigst auf die Einwände reagiert.
Womit ICH jedoch ins Gespräch kommen will ist die PRAKTISCHE Anwendbarkeit. Die ist mit dem mystischen Gerede nicht vorhanden. Das Anliegen geht am Ziel vorbei, das mir wichtig erscheint.
Marguerite kam wegen Vorstellungen aus der Bibel und mit bestimmten Predigtinhalten zu "mystischen" Erfahrungen. Sie wiederholt auch viele "Gespräche", die von anderen Schriftstellern bekannt sind. Was ich damit sagen will: Sie steht nicht in einem Neuland, das sie selbst entdeckte.
MEIN Zugang ist ein anderer. Durch andere Leseweisen kenne ich den ganz anderen Inhalt der Bibel. Da führt man keine eigene Zwiegespräche mehr mit einem gepredigten Gott, sondern sieht Vieles anders, lernt alle Gefühle verstehen und richtig zu reagieren.
Bei der "Mystik" die Marguerita schreibt -fühlt- sie eine unendliche Liebe und sieht sie als höchstes Ziel an. Ich möchte ein Gegenstück sagen. Vor ein paar Tagen hatte eine Frau gewaltig geräuchterte und gesalzene Würste aus Schweinefleisch. Schon zuvor erwähnte ich, dass Fleisch oft Gicht auslöse und Gesalzenes bei Krampfadern Verschlimmerung bringt. Das waren ehrlich gemachte, eigene Erfahrungen. Durch "Erkenntnis" wieder heil geworden, wollte ich das Gute auch anderen zukommen lassen.
"Liebe" wäre gewesen: "Ach, du hast ein wunderbares Essen!"
Die Reaktion darauf: Strahlen, jedoch ein Gejammere:
"Mir geht es so schlecht, was habe ich Schmerzen." Die vorgestellte "Liebe" hätte hier ein Bedauern geäußert, den Tipp gegeben Rosenkranz zu beten, Kamillentee trinken und zum Arzt zu gehen und dazu gesagt: Lies mal so schöne Literatur und komme auf gute Gedanken.
Eine echte Liebe war der Widerspruch. Damit wurde der unangenehme Rat zum Verzicht vorgebracht, auf böse Antwort nicht reagiert. Die Reaktion in echter Liebe hätte auf die Überlegung reagiert. Statt nach "Liebe" zu gieren, hätte sie nach Wirkungen gefragt. Da wäre Dankbarkeit für den Rat da gewesen, der alle Schmerzen verschwinden lässt.
Nimm nun einen Schöpfergott, der die Schöpfung durchblickt und nicht auf Wischiwaschigefühlsgedusel angewiesen ist. Ein guter Schöpfergott müsste Interesse an einer ruhigen Welt haben, in der normales Verstehen und Wissen herrscht. Sonst wäre er doch nur in Dauerrettungseinsatz.
Ein imaginärer Gott hört sich das Gejammere an. Er wird angestellt um den "blöden" Ratgeber rauszuwerfen, der das eigene Wohlfühlen schlecht macht. In der spirituellen Welt mag das gehen. Das hilft aber nicht gegen die Folgen einer verkehrten Mahlzeit. Die materielle Welt ist konsequent und "knallhart" in ihrer Logik.
Re: Marguerite Porète. "Der Spiegel der einfachen Seelen"
Verfasst: Di 3. Dez 2013, 15:09
von Demian
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