David Steindl-Rast: Jeder Mensch ist ein Mystiker
Verfasst: Mo 29. Apr 2013, 21:38
Hier ein schöner Artikel von David Steindl-Rast, den ich euch empfehle.
Jeder Mensch ein einzigartiger Mystiker
„Weit schwerwiegender als diese äußerlichen Veränderungen sind aber die unserer Innenwelt. Ich habe einen Bewußtseinswandel miterlebt, der sich zum Beispiel in einer ganz anderen Stellung der Frau in der Gesellschaft ausdrückt, in einer Umwertung der Sexualität, in einer neuen Sensibilität für Menschenrechte. Der tiefgreifendste Umschwung aber betrifft entschieden das vorherrschende Gottesbild. Die Gottesvorstellung, die von der westlichen Gesellschaft vor sieben Jahrzehnten weitgehend vorausgesetzt wurde, verhält sich zur heutigen wie Eis zu Wasser - oder soll ich sagen, wie Wasser zu Dampf? Beide Bilder erscheinen mir zutreffend. Was starr festgelegt erschien, ist flüssig geworden; was begreiflich, ja fast greifbar erschien, hat sich „verflüchtigt."
Was liegt dieser umwälzenden Veränderung zugrunde? Ganz kurz gefaßt: Ein Wertwandel. Bis vor kurzem galt begriffliche Erfaßbarkeit als höchster Wert. Heute bewertet ein ständig wachsender Teil der Gesellschaft das persönlich Erlebbare höher. Im religiösen Bereich äußert sich das als fortschreitende Entwertung der Dogmatik und als „Popularisierung" der Mystik. Ich verwende hier den Begriff „Mystik" im Sinne von „persönlicher Erfahrung göttlicher Wirklichkeit". In meiner Kindheit galten Mystiker als ganz einzigartige Menschen; heute sehen wir mit Recht in jedem Menschen einen ganz einzigartigen Mystiker - zumindest der Veranlagung nach. Ob wir dieser Veranlagung gemäß leben, ist damit noch nicht gesagt.
…
„Mönche weit auseinanderliegender Traditionen fanden, daß sie in ihrem innersten mönchischen Streben eins waren; allen ging es um das Gleiche, um „die persönliche Erfahrung der göttlichen Wirklichkeit". Das wurde uns so klar, daß selbst die Weigerung der Buddhisten, das Wort „Gott" zu verwenden, die Einsicht nicht trüben konnte, daß wir alle mit derselben Wirklichkeit Erfahrungen machten. Zugleich wurde uns bewußt, daß eine Tradition sich von der anderen dadurch unterschied, daß ihre Aufmerksamkeit auf einen anderen Aspekt derselben Wirklichkeit gerichtet ist. So sehen Buddhisten die letzte Wirklichkeit vor allem als jenes namenlos Unaussprechliche, das Ursprung und Ziel allen Daseins ist und als existentielles Schweigen erlebt wird. Für Juden, Christen und Muslime steht dagegen im Zentrum des Blickfeldes das Wort (im weitesten Sinn), die Wirklichkeit, in der sich das letztlich Unsagbare doch ausspricht und so für uns und in uns gegenwärtig wird. Für den Hindu ist von letzter Bedeutung das Verstehen, das im Tun zu sich selbst kommt.“
...
„Es besteht auch die Gefahr, daß wir uns auf uns selber zurückziehen. Dies droht dem unausgegorenen Mystiker ständig. Über alle diese Gefahren hilft die christliche Gotteslehre hinweg. Schon allein, daß sie von einer Tradition getragen wird, kommt dem Gefühl, entwurzelt zu sein, zuvor und gibt uns in einem größeren Ganzen ein Zuhause. Diese Lehre verlangt scharfes, aber nüchtern selbstkritisches Denken und zugleich die Glut persönlicher Gotteserfahrung. Wenn diese beiden aber zusammenkommen, dann schmilzt das theistische Eis der Dogmen und lebenspendendes Wasser sprudelt.“
Quelle
Jeder Mensch ein einzigartiger Mystiker
„Weit schwerwiegender als diese äußerlichen Veränderungen sind aber die unserer Innenwelt. Ich habe einen Bewußtseinswandel miterlebt, der sich zum Beispiel in einer ganz anderen Stellung der Frau in der Gesellschaft ausdrückt, in einer Umwertung der Sexualität, in einer neuen Sensibilität für Menschenrechte. Der tiefgreifendste Umschwung aber betrifft entschieden das vorherrschende Gottesbild. Die Gottesvorstellung, die von der westlichen Gesellschaft vor sieben Jahrzehnten weitgehend vorausgesetzt wurde, verhält sich zur heutigen wie Eis zu Wasser - oder soll ich sagen, wie Wasser zu Dampf? Beide Bilder erscheinen mir zutreffend. Was starr festgelegt erschien, ist flüssig geworden; was begreiflich, ja fast greifbar erschien, hat sich „verflüchtigt."
Was liegt dieser umwälzenden Veränderung zugrunde? Ganz kurz gefaßt: Ein Wertwandel. Bis vor kurzem galt begriffliche Erfaßbarkeit als höchster Wert. Heute bewertet ein ständig wachsender Teil der Gesellschaft das persönlich Erlebbare höher. Im religiösen Bereich äußert sich das als fortschreitende Entwertung der Dogmatik und als „Popularisierung" der Mystik. Ich verwende hier den Begriff „Mystik" im Sinne von „persönlicher Erfahrung göttlicher Wirklichkeit". In meiner Kindheit galten Mystiker als ganz einzigartige Menschen; heute sehen wir mit Recht in jedem Menschen einen ganz einzigartigen Mystiker - zumindest der Veranlagung nach. Ob wir dieser Veranlagung gemäß leben, ist damit noch nicht gesagt.
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„Mönche weit auseinanderliegender Traditionen fanden, daß sie in ihrem innersten mönchischen Streben eins waren; allen ging es um das Gleiche, um „die persönliche Erfahrung der göttlichen Wirklichkeit". Das wurde uns so klar, daß selbst die Weigerung der Buddhisten, das Wort „Gott" zu verwenden, die Einsicht nicht trüben konnte, daß wir alle mit derselben Wirklichkeit Erfahrungen machten. Zugleich wurde uns bewußt, daß eine Tradition sich von der anderen dadurch unterschied, daß ihre Aufmerksamkeit auf einen anderen Aspekt derselben Wirklichkeit gerichtet ist. So sehen Buddhisten die letzte Wirklichkeit vor allem als jenes namenlos Unaussprechliche, das Ursprung und Ziel allen Daseins ist und als existentielles Schweigen erlebt wird. Für Juden, Christen und Muslime steht dagegen im Zentrum des Blickfeldes das Wort (im weitesten Sinn), die Wirklichkeit, in der sich das letztlich Unsagbare doch ausspricht und so für uns und in uns gegenwärtig wird. Für den Hindu ist von letzter Bedeutung das Verstehen, das im Tun zu sich selbst kommt.“
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„Es besteht auch die Gefahr, daß wir uns auf uns selber zurückziehen. Dies droht dem unausgegorenen Mystiker ständig. Über alle diese Gefahren hilft die christliche Gotteslehre hinweg. Schon allein, daß sie von einer Tradition getragen wird, kommt dem Gefühl, entwurzelt zu sein, zuvor und gibt uns in einem größeren Ganzen ein Zuhause. Diese Lehre verlangt scharfes, aber nüchtern selbstkritisches Denken und zugleich die Glut persönlicher Gotteserfahrung. Wenn diese beiden aber zusammenkommen, dann schmilzt das theistische Eis der Dogmen und lebenspendendes Wasser sprudelt.“
Quelle