Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

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Pluto
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Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von Pluto »

Das erste Zitat stammt von René Descartes. Interessant dass Descartes die Wissenschaft als das entscheidende Merkmal des Menschen sieht.

Das zweite Zitat stammt von einem großen Denker in Bagdhad: vom persischen Mathematiker Abu Rayan al-Biruni.
Zu beacten ist seine Lebenszeit (973-1048). Das Zitat wurde also etwa 500 Jahre VOR Galilei niedergeschrieben!

Von wegen, die kopernikanische Wende war ein Meilenstein für die Naturwissenschaft. Hier ist ein Erleuchteter, der Verstand worum es ging, als Europa sich noch im tiefsten Mittelalter befand. Schade, das er und einige andere große Denker aus Arabien heute in Vergessenheit geraten sind.
(Die Zitate entnahm ich einer Rede des Quantenphysikers, Prof. Jim Al-Khalili.)
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Pluto
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Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von Pluto »

Halman hat geschrieben:Hierbei geht es aber um einen Paradigmenwechsel in der wissenschaftlichen Arbeitsweise. Stand die Naturphilosophie noch auf einen Bein, steht die Naturwissenschaft nun auf zwei Beinen standfester da. Honerkamp stellt fest:°
Zitat von Prof. Josef Honerkamp:
"an einer Theorie zwei Ebenen zu unterscheiden [hat], die formal mathematische einerseits und die begriffliche andererseits."

Wissenschaftstheorie kann sich somit erst mit der Entwicklung seit Galilei befassen. Eine Entwicklung der Naturforschung vor Galilei ist Teil einer Geschichte der Philosophie.
Was meinst Du zu dieser Sichtweise?
Ich stimme ihr voll und ganz zu. Ich zweifle keinen Moment, dass Kopernikus und Galilei die Denkweise der "Intelligenzia" des Mittelalters in Europa aufrüttelte, und es dadurch zu einem neuen Paradigma des Denkens kam.
Halman hat geschrieben:Sie waren Universalgelehrte. Leibniz war vermutlich der letzte ihrer "Art".
Leibniz, Locke, Hume, Kant — wir kennen sie heute als Philosophen aber auch sie waren (im 18. Jahrhundert) das was du Universalgelehrte nennst.
Halman hat geschrieben:Doch waren ihre naturphilosophischen Erkenntnisse wirklich bedeutsamer, als ihre geisteswissenschaftlichen Ideen? Mag sein - ich weiß es nicht.
Die Wenigsten wissen, dass, gemessen an der Zahl seiner Worte, Newtons Beitrag zur Theologie größer war als zur Physik und Mathematik. :mrgreen:
Halman hat geschrieben:Hast Du schon mal in die Vorlesungen von Prof. Dr. Paul Hoyningen-Huene reingeschaut? Für mich war da so manches überraschend. So wandelte sich im Laufe der Geschichte das, was man unter "Wissenschaft" versteht.
Ich kannte ihn bisher nicht. Werde ich mir aber gerne ds Video anschauen.
Danke!
Halman hat geschrieben:Mit Hilfe dieser antiken Geometrie konnte Wheeler ohne Tensoren die Schwarzschild-Geometrie beschreiben (das Buch solltest Du unbedingt lesen).
Okay. Du hast mich überzeugt. Ich werde es mir heute noch bestellen! :D
Halman hat geschrieben:Wer gab denn den Politikern und den Militärs die Wasserstoffbombe? U.a. die von mir namentlich genannten Physiker. Sie konnten ihre Verantwortung doch nicht etwa an andere abgeben.
Das ist eine sehr geladene Frage.
Natürlich haben alle drei Physiker Grundlagenforschung betrieben aus der später "die Bombe" hervorging. Feynman war als junger Physiker sogar in Los Alamos im Labor tätig.

Oder denke nur an die Sprachwissenschaften. Wissenschaft muss immer irgendwie in Sprache ausgedrückt werden. Der Sprachgebrauch in den Naturwissenschaften ist sehr streng und genau. Sie brauchen also Sprache - sie ist essentiell.
Halman hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Ja... was ist der Sinn des Lebens. Sind wir mehr als ein "Sack voller Atome?", im Wert von ein Paar Cent?
Darauf kann uns die Wissenschaft keine Antwort geben.
Die Geisteswissenschaft kommt hier zum Zug. ;)
sieht so aus! :D
Aber auch die Geisteswissenschaften können uns ebenfalls nicht den Sinn des Lebens erklären. ;)
Halman hat geschrieben:
Pluto hat geschrieben:Sicher wäre die Geschichte der Menschheit Welt ohne Philosophie, Kunst, Musik und Literatur eine ganz andere, ja sogar völlig unvorstellbare Welt. Ist das nicht die Daseinsberechtigung der Geisteswissenschaften?
Ja, und diese Dinge halte ich für ebenso bedeutsam für unsere Kultur.
Für unsere Kultur ganz bestimmt! :D
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Halman
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Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von Halman »

Pluto hat geschrieben:
Halman hat geschrieben:Wer gab denn den Politikern und den Militärs die Wasserstoffbombe? U.a. die von mir namentlich genannten Physiker. Sie konnten ihre Verantwortung doch nicht etwa an andere abgeben.
Das ist eine sehr geladene Frage.
Natürlich haben alle drei Physiker Grundlagenforschung betrieben aus der später "die Bombe" hervorging. Feynman war als junger Physiker sogar in Los Alamos im Labor tätig.
Eben habe ich eine informative vom Astrophyiker Andreas Müller Seite über Physiker gefunden: Ein schwerer Tag im Leben eines Physikers.
John Archibald Wheeler (1911 - 2008)
... Wheeler arbeitete aber auch mit Niels Bohr auf dem Gebiet der Kernspaltung und leitete ein Team zum Bau der Wasserstoffbombe. ...
Edvard Teller (*1908)
amerikanischer Physiker, ungarischer Herkunft, war massgeblich am Bau der Atombombe am Los Alamos Projekt beteiligt.
Ferne möchte ich meine Behauptung mit folgenden Zitaten belegen:
Zitat aus der DER ZEIT:
Auch Richard Feynman gehörte zu Wheelers Studenten. Er bekam 1956 den Nobelpreis für seine Beiträge zur Quantenelektrodynamik. In der Erinnerung an seine Studentenzeit sagte Feynman einmal, "manche Leute glauben, Wheeler wurde in seinen späteren Jahren verrückt – aber er war immer verrückt". Zu Kongressen tauchte er im Cowboyhut auf. Oft provozierte er die mehrheitlich liberalen Kollegen mit nationalistischen Sprüchen.

[...]

Wheeler arbeitete am Manhattan-Projekt zur Entwicklung der US-Atombombe mit, was er anders als andere Wissenschaftler auch nach Hiroshima und Nagasaki nie bereute. Er bedauerte nur, dass die Bombe erst fertig wurde, nachdem sein Bruder Joe 1944 als Soldat in Italien gefallen war. Wheeler beteiligte sich auch an der Entwicklung der Wasserstoffbombe im Kernforschungslabor Los Alamos.
Zitat aus DER SPIEGEL:
Doch seine Theorien hatten durchaus reale Folgen: Mit Niels Bohr legte er 1939 die Grundlagen für die erste Atombombe, mit Edward Teller entwickelte er die Wasserstoffbombe.
War dies nicht mehr, als Grundlagenforschung?
Tja, ein Proton müsste man sein: Dann würde man die Quantenphysik verstehen, wäre immer positiv drauf und hätte eine nahezu unendliche Lebenszeit:-) - Silvia Arroyo Camejo
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Pluto
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Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von Pluto »

Halman hat geschrieben:War dies nicht mehr, als Grundlagenforschung?
Teller und Feynman haben wohl einen Beitrag zur Bombe geleistet.
Bei Wheeler war es eher Grundlagenforschung. Die beiden Ersten haben wohl aus gutgemeintem Patriotismus mitgemacht. So wie andere in den Krieg zogen, haben auch sie ihren Beitrag geleistet.

Was man zu jener Zeit, in den 40er und 50er Jahre nicht wusste, war wie gefährlich Strahlung war, hat man das doch erst Ende der 50er nach dem Bombentests im Südpazifik festgestellt.

Das sind alles Erklärungen, und keine Entschuldigungen, aber wer sind wir, über diese Männer zu richten?
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Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von ThomasM »

Hallo Savonlinna

Ich hole diesen thread mal aus der Versenkung hervor, da sich durch deinen Tipp zur Vorlesung von Professor Paul Hoyningen-Huene für mich ein wichtiger neuer Aspekt aufgetan hat.

Zunächst einmal habe ich den Eindruck, dass das, was wir hier gemacht haben, nämlich Analogien zwischen dem Vorgehen in der Textwissenschaft und der Naturwissenschaft zu finden, ziemlich gut in das Schema der Systematizität von Hoyningen-Huene passt. Insofern haben wir nur Laienhaft versucht, was er mit größerer Professionalität durchgezogen hat.

Ich habe damit das Gefühl, dass du mit deinem Ansinnen damit vielleicht nicht unbedingt am Ziel bist, aber in Hoyningen-Huene ein Leitbild gefunden hast.

Im Nachdenken darüber habe ich festgestellt, dass ich nicht am Ziel bin. Dadurch ist mir klarer geworden, was mein Ansinnen ist (was für sich bereits ein wichtiger Schritt ist). Hoyningen-Huene gibt mir einen wichtigen systematischen Rahmen, aber auf die Frage, die mich bewegt, geht er vermutlich nicht ein (wobei ich noch nicht alle Vorlesungen angehört habe).

Das, worum es mir geht, lässt sich vermutlich mit dem Begriff der Durchlässigkeit beschreiben. Dahinter steckt die Frage:
Inwiefern können Erkenntnisse in der einen Wissenschaft die Erkenntnisse in der anderen Wissenschaft beeinflussen?

Hier (und das wäre eine wichtige Erkenntnis) sehe ich, dass die Menge der Wissenschaften nach meinem Eindruck in zwei Klassen fallen. Wissenschaften innhalb jeder Klasse beeinflussen sich gegenseitig und können Fortschritte machen, indem in einem benachbarten Wissenschaftsgebiet neue Erkenntnisse entstehen. Aber die Wissenschaften zwischen den Klassen sind praktisch abgekoppelt, ohne wirklichen Bezug zueinander.

Die erste Klasse würde ich als die der "Realwissenschaften" bezeichnen. Das sind die Wissenschaften, die sich mit einem realen Gegenstand beschäftigen. Natürlich gehören die Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie, Geologie, Paläontologie, Astronomie, usw.) dazu, aber auch Geschichtswissenschaften (naturwissenschaftliche Erkenntnisse haben bedeutenden Einfluss auf geschichtliche Schlussfolgerungen), Psychologie (Gehirnvorgänge haben wichtige psychologische Schlussfolgerungen), Mathematik (Physik und Mathematik haben sich immer schon gegenseitig befruchtet), Medizin (sollte klar sein), Soziologie (man denke nur an die Befruchtung durch Evolution) usw.

Jede dieser Wissenschaften haben ihre eigenen Schwerpunkte, ihre eigenen Methoden, ihre eigene Sprache, aber man sieht eine gewisse Durchlässigkeit.

Die zweite Klasse würde ich als "Gedankenwissenschaften" bezeichnen (eine besserer Begriff ist mir nicht eingefallen). Dazu gehört Germanistik, Textwissenschaften, Theologie, Kunst, usw. Diese beschäftigen sich mit Dingen, die in einem Menschen vorgehen, seine Ideen, Gefühle, Gedanken, das was ihn bewegt. Auch hier gibt es Durchlässigkeit, man sehe nur auf den Einfluss, den die Textanalyse in der Theologie hinterlassen hat.

Ich sehe aber nicht, inwiefern die "Realwissenschaften" Einfluss auf die "Gedankenwissenschaften" haben würde (oder umgekehrt). Würde denn eine Erkenntnis meinetwegen in der Physik in irgendeiner Weise Einfluss auf das haben, was man bei einer Textanalyse herausarbeitet? Ich habe den Eindruck, dass hier eine Barriere existiert, die mir immer noch unüberwindbar erscheint.

Die einzige Wissenschaft, die hier eine Brücke bauen kann, wäre vielleicht die Philosophie. Sie ist definitiv von den Naturwissenschaften stark beeinflusst worden, aber ich sehe auch Verbindungen hin zur Textwissenschaft (z.B. durch die Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Denken).

Es ist diese von mir formulierte Barriere, die mein Ansinnen darstellt.
Ist sie real? Kann sie überwunden werden?
Das war der Antrieb, warum ich mich für den thread hier interessiert habe.
Gott würfelt nicht, meinte Einstein. Aber er irrte. Gott nutzt den Zufall - jeden Tag.
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closs
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Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von closs »

ThomasM hat geschrieben:Ich sehe aber nicht, inwiefern die "Realwissenschaften" Einfluss auf die "Gedankenwissenschaften" haben würde (oder umgekehrt).
Zunächst nur ein kurzer Einwurf zu Deine umfassende Darstellung:

"Reales" und "Gedankliches" stehen nach Ansicht vieler Menschen sehr wohl interaktiv zueinander - die Frage ist, ob (wie Du es formulierst) die jeweiligen Wissenschaften interaktiv zueinander stehen. - Somit hätten wir ein erster Ergebnis: Wissenschaften sind (aufgrund ihrer methodischen Bedingungen) diesbezüglich störrischer zueinander als Menschen.

Ansonsten hat die Relativitätstheorie sehr wohl Einfluss auf die Literatur genommen - man denke nur an Th. Manns "Zauberberg", oder überhaupt das Zerfallen der Philosophie/Literatur ins Relative. - Während der Idealismus (die Religion ohnehin) eine "Idee" als absoluten Maßstab des Menschen versteht, ist es spätestens seit Einstein der relative Bezugspunkt ("Ich").

Nun deutet sich diese Entwicklung bereits VOR Einstein an - da allerdings würden viele sagen, dass "Geistiges/Gedankliches" und "Realwissenschaftliches" jeweils zu seiner Zeit kommt, also kein "Zufall" ist. - Auch Galilelo war kein Zufall.
Savonlinna
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Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von Savonlinna »

ThomasM hat geschrieben:Hallo Savonlinna
Hallo Thomas!

Ich unterscheide mal bei dem Vergleich von Natur- und Geisteswissenschaften zwei Herangehensweisen:

1. Man nimmt die jeweiligen Untersuchungsobjekte oder -felder in den Blick
2. Man nimmt die Methoden und deren Voraussetzungen in den Blick.

Du nimmst zunächst 1. in den Blick:
ThomasM hat geschrieben: Die erste Klasse würde ich als die der "Realwissenschaften" bezeichnen. Das sind die Wissenschaften, die sich mit einem realen Gegenstand beschäftigen. Natürlich gehören die Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie, Geologie, Paläontologie, Astronomie, usw.) dazu, aber auch Geschichtswissenschaften (naturwissenschaftliche Erkenntnisse haben bedeutenden Einfluss auf geschichtliche Schlussfolgerungen), Psychologie (Gehirnvorgänge haben wichtige psychologische Schlussfolgerungen), Mathematik (Physik und Mathematik haben sich immer schon gegenseitig befruchtet), Medizin (sollte klar sein), Soziologie (man denke nur an die Befruchtung durch Evolution) usw.
Eventuell würde ich da etwas anders bezüglich des Untersuchungsobjektes oder Untersuchungsfeldes unterscheiden:

1.1 Dinge, die nicht der Mensch gemacht hat - Baum, Stern, Stein
1.2 Dinge, die der Mensch gemacht hat - Gedicht, Wirtschaftsstystem, Auto

Das ist aber auch noch nicht ausreichend, denn man kann - und muss - auch unterscheiden, ob der Gegenstand lebendig ist oder nicht, und ob das Lebendige menschlich ist oder nicht.
So ist die Psyche zwar nicht vom Menschen gemacht und würde unter 1.1 laufen, ist aber Teil des Menschen.
Und das Auto ist zwar vom Menschen gemacht - läuft also unter 1.2., ist aber nicht Teil des Menschen.

Die von Dir aufgeführten Wissenschaften beschäftigen sich teilweise mit 1.1., teilweise mit 1.2, darum kann man dann auch innerhalb der Wissenschaften die Gegenstände unterscheiden, und das tut man auch.

Und man kann ein und dasselbe Objekt - das Sprechen zum Beispiel - physisch untersuchen (wie ist das Sprechen durch die Bildung des Kehlkopfs möglich, Bereich Medizin oder Physiologie) und nicht-physisch (wie entsteht das System Sprache (Linguistik), wie beeinflussen verschiedene Sprachen das Denken (Philosophie), wie beeinflusst die jeweilige Sprache die Art der Dichtung (Literaturwissenschaft).

Dieser Problematik wird heute, wenn ich das richtig checke, durch interdisziplinäre Zusammenarbeit Rechnung getragen, auch wenn das vielleicht erst langsam im Entstehen ist.
Thema "Auto" also kann unter dem Aspekt der Wirtschaft, der Mechanik, gesellschaftlicher Bedürfnisse, psychischer Bedürfnisse (Statussymbol) etc. betrachtet werden.
Gegenstände, die der Mensch gemacht hat, sind also immer auch FÜR den Menschen gemacht und fallen darum beim Thema "Buch" gleichzeitig unter "Buchherstellung" - Produktionsformen - als auch unter Literaturwissenschaft

ThomasM hat geschrieben:Ich sehe aber nicht, inwiefern die "Realwissenschaften" Einfluss auf die "Gedankenwissenschaften" haben würde (oder umgekehrt). Würde denn eine Erkenntnis meinetwegen in der Physik in irgendeiner Weise Einfluss auf das haben, was man bei einer Textanalyse herausarbeitet? Ich habe den Eindruck, dass hier eine Barriere existiert, die mir immer noch unüberwindbar erscheint.
Man kann das eigentlich fast umgekehrt sehen.

Bislang haben immer die Naturwissenschaften die Marschrichtung für die Geisteswissenschaften angegeben.
Die Biologie - mit der Untersuchung organischer Formen - hat die Geschichtswissenschaft beeinflusst, indem man nun auch in den geschichtlichen Epochen organische Abläufe unterstellte.

Die Physik des 19. Jahrhunderts bewirkte flugs den Positivismus sowohl in der Philosophie als auch in der Literaturwissenschaft, indem man in beiden Fällen meinte, der Mensch würde genauso mechanisch funktionieren: man könnte fast im Voraus berechnenen, welch ein literarischer Werk ein Mensch produzieren würde, wenn man weiß, welche Erbanlagen und Kindheitseinflüsse dieser habe.

Der Positivismus ist in der Literaturwissenschaft nach 1945 ein no-go geworden, weil man ja auch in der Naizeit annahm, dass Rasse bestimte Denkformen erzwinge.

In der Philosophie ist die Beeinflussung durch die Naturwissenschaften noch viel deutlicher, aber das schreibst Du ja selber.
ThomasM hat geschrieben:Die einzige Wissenschaft, die hier eine Brücke bauen kann, wäre vielleicht die Philosophie. Sie ist definitiv von den Naturwissenschaften stark beeinflusst worden, aber ich sehe auch Verbindungen hin zur Textwissenschaft (z.B. durch die Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Denken).
Da käme ich jetzt nun zu meinem Punkt 2.

Ich bin nämlich der Meinung, dass diese einseitige Beeinflussung der Geisteswissenschaften durch die Naturwissenschaften sich als menschenfeindlich herausgestellt hat, seit Kriegsende auch in dem Punkt neu gestartet wurde, allerdings in mancher Hinsicht heute wieder ausgebuddelt wird, weil man sich erneut den Einfluss der Naturwissenschaft auf das humanum wünscht. Was in meinen Augen die gleiche, wenn nicht noch eine schlimmere menschliche Katastrophe und Tragödie nach sich ziehen würde als in den Dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts.
ThomasM hat geschrieben:Es ist diese von mir formulierte Barriere, die mein Ansinnen darstellt.
Ist sie real? Kann sie überwunden werden?
Das war der Antrieb, warum ich mich für den thread hier interessiert habe.
Meines Erachtens existiert diese Brücke schon, zumindest im Ansatz - aber nicht über die Untersuchung der Objekte, unter Hegemonie der Naturwissenschaften oder der Geisteswissenschaften, sondern durch Reflexion der Methoden.

Die Wissenschaftstheorie reflekitert, dass ALLE Wissenschaften aus der Erkenntnistheorie entstanden sind, auch die Naturwissenschaften.
Der von mir öfter erwähnte "linguistic turn" macht bewusst, dass auch die Naturwissenschaft sich in Sprache ausdrücken muss und dass das Resultat DEUTUNG ist.
Bei Dir renne ich da wahrscheinlich offene Türen ein, weil Du darum weißt.
ThomasM
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Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von ThomasM »

Savonlinna hat geschrieben:
Eventuell würde ich da etwas anders bezüglich des Untersuchungsobjektes oder Untersuchungsfeldes unterscheiden:

1.1 Dinge, die nicht der Mensch gemacht hat - Baum, Stern, Stein
1.2 Dinge, die der Mensch gemacht hat - Gedicht, Wirtschaftsstystem, Auto
Diese Unterscheidung stellt die Fähigkeit des Menschen als zentrales Unterscheidungskriterium hin, was ich als künstlich empfinde. Zumal du korrekt herausarbeitest, dass das kein sinnvolles Unterscheidungskriterium für Wissenschaften ist.
Savonlinna hat geschrieben: Und man kann ein und dasselbe Objekt - das Sprechen zum Beispiel - physisch untersuchen (wie ist das Sprechen durch die Bildung des Kehlkopfs möglich, Bereich Medizin oder Physiologie) und nicht-physisch (wie entsteht das System Sprache (Linguistik), wie beeinflussen verschiedene Sprachen das Denken (Philosophie), wie beeinflusst die jeweilige Sprache die Art der Dichtung (Literaturwissenschaft).
Das ist korrekt, geht aber irgendwie an dem Punkt vorbei, den ich sagen wollte.
So können Erkenntnisse in der Medizin zum Beispiel Konsequenzen hervorrufen, die ich in der Evolutionsbiologie ziehe. Diese wiederum haben Einfluss auf die Frage der Entstehung von Sprache, was wiederum Schlussfolgerungen in der Geschichte der Menschwerdung mit sich bringt, wodurch wiederum frühe Kunstwerke anders gedeutet werden können.
Das sind die Ketten von Möglichkeiten, die ich meine.
Die Literaturwissenschaft hier einzubeziehen, ist schwierig, da diese ein sehr junges Phänomen ist bzw. aus der Urzeit keine Literatur überliefert wurde.
Für mich ist es dann die Frage, ob und wie ein solcher Einfluss möglich wäre.
Savonlinna hat geschrieben: Bislang haben immer die Naturwissenschaften die Marschrichtung für die Geisteswissenschaften angegeben.
Ich habe versucht, meine Gedanken neutral zu formulieren. Es geht mir nicht um Dominanz, sondern um Durchlässigkeit. Diese kann in zwei Richtungen gehen, obwohl die Einflüsse, die wir bisher festgestellt haben, hauptsächlich in eine Richtung gingen.
Vielleicht gibt es dafür auch einen Grund.
Savonlinna hat geschrieben: Die Physik des 19. Jahrhunderts bewirkte flugs den Positivismus sowohl in der Philosophie als auch in der Literaturwissenschaft, indem man in beiden Fällen meinte, der Mensch würde genauso mechanisch funktionieren: man könnte fast im Voraus berechnenen, welch ein literarischer Werk ein Mensch produzieren würde, wenn man weiß, welche Erbanlagen und Kindheitseinflüsse dieser habe.
Diese Theorie feiert meines Erachtens in der Aussage "Der Mensch ist nichts weiter als ein chemischer Computer" eine fröhliche Rückkehr und beeinflusst aktuell hauptsächlich die Frage nach Schuld und Strafe.
Savonlinna hat geschrieben: Meines Erachtens existiert diese Brücke schon, zumindest im Ansatz - aber nicht über die Untersuchung der Objekte, unter Hegemonie der Naturwissenschaften oder der Geisteswissenschaften, sondern durch Reflexion der Methoden.
Nun ja. Hoyningen-Huene ist ein Schüler von Feyerabend und relativiert die Bedeutung von Methoden stark. Ein Vergleich von entfernten Familien von Wissenschaften über den Vergleich der Methodik oder die Definition eines übergeordneten Satzes von Methoden lehnt er ab. Und seine Argumente sind durchaus bedenkenswert.
Savonlinna hat geschrieben: Die Wissenschaftstheorie reflekitert, dass ALLE Wissenschaften aus der Erkenntnistheorie entstanden sind, auch die Naturwissenschaften.
Der von mir öfter erwähnte "linguistic turn" macht bewusst, dass auch die Naturwissenschaft sich in Sprache ausdrücken muss und dass das Resultat DEUTUNG ist.
Diese Aussage ist mir nicht genug. Aber ein Ausgangspunkt.

Das erinnert mich an den Satz von Gödel. Es ist sehr interessant, wie Gödel seinen berühmten Satz von der Unvollständigkeit der Mathematik bewiesen hat.
Er beschrieb dazu einen mathematischen Satz und seinen Beweis als eine Folge von Zeichen (Sprache). Jeder Beweis kann also in einem Zeichenschema geschrieben werden. Gödel entwickelte ein abstraktes Schema, in den alle Beweise, egal wie sie aussehen und welchen Inhalt sie haben, enthalten sind. Dann entwickelte er einen wahren Satz, dessen Beweis nicht in dieser Form geschrieben werden kann.

Mit anderen Worten: Gödel hat Eigenschaften von Sprache verwendet, um eines der fundamentalsten Aussagen der Mathematik zu beweisen.
Und zeigte damit, dass es Sätze gibt, die wahr sind, aber nicht als wahr bewiesen werden können.

Vielleicht ist das der Weg nach vorne.
Verwendet die Methoden der Sprachwissenschaften, um Eigenschaften über Sprache zu entwickeln, die Aussagen darüber machen, was man mit Naturwissenschaft prinzipiell aussagen kann. Und damit die Begrenzungen von Naturwissenschaft aufzeigen.

Das wäre wirklich etwas Großes, wenn das gelänge.
Gott würfelt nicht, meinte Einstein. Aber er irrte. Gott nutzt den Zufall - jeden Tag.
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Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von Pluto »

ThomasM hat geschrieben:
Savonlinna hat geschrieben:
Eventuell würde ich da etwas anders bezüglich des Untersuchungsobjektes oder Untersuchungsfeldes unterscheiden:

1.1 Dinge, die nicht der Mensch gemacht hat - Baum, Stern, Stein
1.2 Dinge, die der Mensch gemacht hat - Gedicht, Wirtschaftsstystem, Auto
Diese Unterscheidung stellt die Fähigkeit des Menschen als zentrales Unterscheidungskriterium hin, was ich als künstlich empfinde. Zumal du korrekt herausarbeitest, dass das kein sinnvolles Unterscheidungskriterium für Wissenschaften ist.
Naja...
Ganz so dumm finde ich das nicht, die Welt in Artefakte und natürliche Gegenstände zu unterteilen.
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Re: Parallelen Geisteswissenschaft - Naturwissenschaft

Beitrag von ThomasM »

Wie das Leben so spielt, habe ich gerade eine Hausarbeit von meinem Sohn Korrektur gelesen.
Er studiert Germanistik auf Master und das Thema war linguistische Frames, speziell nicht-lexikalische Frames.

Nicht, dass ich alles verstanden hätte und es ist auch noch ein sehr neues Forschungsgebiet.
Aber es scheint mir das Potenzial zu haben, am Ende tiefgehende strukturelle Aussagen über Sprache machen zu können.
Vielleicht kann man damit am Ende auch Aussagen finden, was sich mit Sprache prinzipiell machen lässt, also auch mit Naturwissenschaft.

Kennst du das Thema, Savonlinna?
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