Wie ich im Staatstheater zu Weimar den Klassenfeind gab

Literatur, Malerei, Bildhauerei
Munro

Re: Wie ich im Staatstheater zu Weimar den Klassenfeind gab

Beitrag von Munro »

Ich erzähle weiter:

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Diskret blendet die Kamera nun über von den Geschehnissen in dem westlich-französischen R4 zu den Geschehnissen im Innern des östlich-thüringischen Studentenwohnheims, die sich zeitgleich abspielten. Auch sie sind erwähnenswert.

In jenem Jenaer Studentenwohnheim gab es in jener Nacht auf dem Stockwerk von Vanessa eine Krisen-Versammlung. Keine der Studentinnen tat ein Auge zu, alle warteten sie gemeinsam darauf, dass Vanessa zurückkommen möge. Man (oder besser frau) war in schwerer Sorge um sie. Sie hatte sich in Weimar vom Kollektiv entfernt! Sie war nicht wie alle andern gemeinsam mit dem Zug zurückgefahren! Das war natürlich aufgefallen. Vanessa wurde vermisst! Und das Schlimme: Sie war zuletzt gesehen worden mit einem Klassenfeind! Man munkelte gar, sie sei in sein westlich-dekadentes französisches Auto eingestiegen! Ob man sie nicht aus den Händen des Klassenfeindes erretten sollte? Ob man eine Vermissten-Meldung aufgeben sollte?
Munro

Re: Wie ich im Staatstheater zu Weimar den Klassenfeind gab

Beitrag von Munro »

Dieses Szenario bot sich an:

Stündliche Durchsagen im Radio: “Achtung, Achtung! Wilder westlicher Waldbaum entführt schöne sächsische Sozialistin! Unterwegs vermutlich im Raume Erfurt - Jena. Für sachdienliche Hinweise sind Belohnungen ausgesetzt. Erster Preis: Ein Monat Ferien in Sibirien. Zweiter Preis: ZWEI Monate Ferien in Sibirien!”

Hundertschaften der Volkspolizei, verstärkt durch schwerbewaffnete Betriebskampfgruppen, durchkämmen Felder, Gärten, Wiesen und Wälder zwischen Weimar und Jena. Bei der NVA gilt Alarmstufe eins. Kampfpanzerwagen kontrollieren alle Zu- und Abfahrten der Autobahn zwischen Eisenach und Görlitz. Kampfhubschrauber mit Suchscheinwerfern kreisen über Thüringer Tannen.

Ob man nicht auch den Großen Bruder verständigen sollte? Diese Iljuschins haben gute Luft-Boden-Raketen, hört man! Man hört aber auch, dass der Große Bruder gerne mal erst schießt, und unnötige Fragen später stellt. Dann gäbe es einen Westler weniger. Es gäbe aber auch eine nette sächsische Studentin an der Uni Jena weniger. Wollen wir das, liebe Stockwerksgenossinen? Vanessa war doch immer so nett … Gott, ich sag schon “war”!

Aber vielleicht ist die Sache ja ganz anders? Vielleicht ist die Sache ja so: Wer sagt uns, dass Venessa nicht eine secret-undercover-Lockvogel-Agentin ist, die auf westliche Staatsgäste angesetzt ist? Dieser Markus Wolf ist ein Fuchs! Aktion Romeo lässt grüßen! In Bonn sind ja damals jede Menge Sekretärinnen gefallen - östlichen Romeos zuliebe! Da mag auch manch ein Waldbaum fallen, einer sächsischen Julia zuliebe!

Vielleicht hat der Markus Wolf ja mal zu dem netten Vanessa-Rotkäppchen gesagt: “Was bringst du deinen Rotkäppchen-Sekt denn aber auch gleich der Großmutter? Schau doch mal - wenn du nur ein bißchen vom rechten sozialistischen Weg abgehst - da hat es wunderbare westliche Waldbäume! Pflück dir da ruhig mal ein paar Blumen - die Großmutter tät sich sicher freuen!” Ja, wer sagt uns nicht, dass die Sache am Ende so ist?
Karl Marx schreibt auch auf krummen Wegen gerade, die Partei hat immer recht, und den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ox noch Esel auf, wie unser geliebter Genosse Staatsratsvorsitzender erst kürzlich wieder so schön und treffend gesagt hat! Wollen wir da Kuh und Eselin spielen? Wenn wir dem Markus-Wolf seine geheime Geheim-Aktion vermasseln mit unserer Vermissten-Meldung, dann wird er uns fressen!

Und so unterblieb in jener Nacht eine Vermissten-Meldung aus dem Studentenwohnhaus zu Jena.
Munro

Re: Wie ich im Staatstheater zu Weimar den Klassenfeind gab

Beitrag von Munro »

Wie mir Vanessa später erzählte, seien ihre Mitstudentinnen eigentlich verpflichtet gewesen, den Kontakt Vanessa-Waldbaum höheren Ortes zu melden, ob nun vermisst oder nicht. Doch niemand habe sie verraten! Im nachhinein nun von dieser Stelle aus ein Kompliment an diese Mitstudentinnen!



Doch damit nicht genug. Vanessa selbst war auch verpflichtet, ihren Westkontakt zu melden, wie sie mir später sagte. Doch sie habe das denn mal lieber nicht getan. Und ich tadle sie nicht deswegen. Oder? Wollt ihr sie tadeln?
Munro

Re: Wie ich im Staatstheater zu Weimar den Klassenfeind gab

Beitrag von Munro »

Und nun komme ich zum Schluss:

Bevor Vanessa schließlich meinen westlich-dekadenten französischen R4 verließ, tauschten wir noch unsere Adressen aus. Ich gab ihr meine Adresse, und sie gab mir die Adresse ihrer Großmutter.


Warum das denn?


Nun, das war damals durchaus üblich so. Das war unsere konspirative Deck-Adresse. Denn Westkontakte waren für junge zukünftige Englisch-Lehrerinnen nicht erwünscht - noch nicht mal nach England! Aber an Großmüttern war dieser Markus-Wolf nicht so sehr interessiert. Die durften schon Briefe aus dem Westen bekommen - oder am besten gleich für immer dort bleiben, wo westlicher Pfeffer wächst, um der knappen sozialistischen Staatskasse nicht zur Last zu fallen.

Junge Vanessa-Rotkäppchen aber sollten besser die Finger von westlichen Waldbäumen lassen, wenn sie die freie deutsche Jugend lehren wollten, wie man den Sozialismus aufbaut!
Munro

Re: Wie ich im Staatstheater zu Weimar den Klassenfeind gab

Beitrag von Munro »

Also: Bevor Vanessa schließlich meinen westlich-dekadenten französischen R4 verließ, tauschten wir noch unsere Adressen aus. Das war im Jahre 1977, wie schon gesagt.

Wir blieben dann noch eine Weile in Kontakt.

Neu belebt wurde der Kontakt dann 1989/1990 zur Wendezeit.

More later. :wave:
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Magdalena61
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Re: Wie ich im Staatstheater zu Weimar den Klassenfeind gab

Beitrag von Magdalena61 »

Hattest du Verwandte in der DDR?
Oder konnte da jeder hinfahren?
LG
God bless you all for what you all have done for me.
Munro

Re: Wie ich im Staatstheater zu Weimar den Klassenfeind gab

Beitrag von Munro »

Magdalena61 hat geschrieben: Sa 6. Apr 2019, 01:50 Hattest du Verwandte in der DDR?
Oder konnte da jeder hinfahren?

Nein, ich hatte keinerlei Verwandte in der DDR.
Und jeder konnte damals in die DDR auch als Tourist fahren, wenn er ein Visum beantragte.
Das war damals wohl allgemein wenig bekannt.

In meiner anderen DDR-Geschichte gehe ich noch extra auf diesen Punkt ein.
Munro

Re: Wie ich im Staatstheater zu Weimar den Klassenfeind gab

Beitrag von Munro »

Es geht noch etwas weiter!

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Es war zur Zeit der dramatischen Wende in der DDR, dass ich mich fragte, wie es Vanessa wohl gehen mag. Und so schrieb ich an ihre Großmutter. Ohne viel Hoffnung auf Antwort.

Doch Gott sei Dank! Und Gott hab sie selig, die selige Großmutter! Sie lebte noch und gab den Brief weiter.

Und bald bekam ich eine dicken und sehr erfreuten Antwortbrief.

Vanessa wohnt inzwischen nun nicht mehr in Sachsen, sondern in Meck-Pomm.
Bald nach dem Brief hat sie unsere Familie mit ihrer Familie besucht: Mit ihrem Mann und zwei Töchtern. Wir haben dann später einen Gegenbesuch gemacht, als wir auf dem Heimweg von der Insel Rügen waren.

Und seither haben wir uns auch einige Male noch gesehen, und ab und zu telefonieren wir auch.
Und: Man kann über Sächsisch sagen, was man will - aber so, wie Vanessa es spricht, klingt es echt schöööön!
Munro

Re: Wie ich im Staatstheater zu Weimar den Klassenfeind gab

Beitrag von Munro »

Magdalena61 hat geschrieben: Sa 6. Apr 2019, 01:50 Hattest du Verwandte in der DDR?
Oder konnte da jeder hinfahren?
Hier eine direkte Antwort darauf:
Ich reiste damals ganz allein als Einzeltourist in die DDR. Das war eher unüblich. Man reiste in die DDR zu Verwandtenbesuch, als Delegation, oder in einer organisierten Reise-Gruppe. Aber ich kam als einzelner Tourist, mit einem Visum nur für mich allein.

Ich weiß noch, wie ich damals mein Zimmer im Reisebüro buchte. Vor mir wollten alle nach irgendwelchen Badeorten am Mittelmeer und wurden routiniert bedient. Aber als ich sagte, ich wollte nach Weimar, musste mal lange kramen, bis man da einen Reisekatalog dafür fand. Ich konnte dann auch nicht Weimar buchen, weil wegen der Shakespeare-Tage schon alle Inter-Hotels belegt waren. Und so kam ich nach Erfurt.
Hier habe ich mal einen kleinen Text aus einer meiner anderen Geschichten hierherkopiert. :idea:
Jene Geschichte wird meine nächste sein.
Dieser Text passt aber nun auch gut hierher.
Munro

Re: Wie ich im Staatstheater zu Weimar den Klassenfeind gab

Beitrag von Munro »

Und es geht noch einmal weiter ....

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Es war im Oktober 2002, als ich von Berlin aus mit dem Zug nach Dresden kam.

In das Dresden nach der großen Überschwemmung. Die Schäden waren noch überall zu sehen. Die Flut hatte den Bahnhof leergeschwemmt, er wirkte wie eine Bau-Ruine. Züge fuhren nur noch in Richtung Polen. Die Verbindung nach Westen war unterbrochen, und um nach Karlsruhe weiterzukommen, musste ich damals eine abenteuerliche Fahrt per Bus über Land machen, bei der ich dann irakische Christen kennenlernte, die aus ihrer Heimat geflohen waren. Aber das ist wieder eine andere Geschichte ....

Die Unterbrechung der Verbindung nach Westen erinnerte ein bisschen an die alte deutsch-deutsche Teilung.

Doch zum Ausgleich dazu gab es an der Frauenkirche ein deutsch-deutsches Treffen!

Diese Frauenkirche habe mich auch in mehreren Stationen ihres Lebens gesehen:

1. als Schuttberg

2. als Baustelle mit Regalen voller numerierter alter Steine, die beim Wiederaufbau verwendet werden sollten

3. und nun als fast fertige Kirche

So stand ich nun bei Nacht, aber ohne Nebel, an der halbfertigen Frauenkirche, um auf mein rendez-vous zu warten.

Und bald schon erschien aus dem Dunkel der Nacht eine wunderschöne junge Frau in feierlichem Schwarz. Vanessas Tochter, die damals an der Uni Dresden studierte.

Und sie hatte ein Lokal ausgesucht, das mir sehr zusagte: einen alten Gewölbekeller am Fluss, wo es sächsische Spezialitäten zu essen gab. Sogar die Speisekarte war zweisprachig, hochdeutsch und sächsisch.

Ich habe eine dreifach gute Erinnerung an jenen Abend: an Vanessas Tochter, an die Frauenkirche, und an das gute Essen und den Wein in jenem historischen Gewölbekeller.
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