Der Nihilismus: Die Ideologie des Antichristen?

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Faust

Der Nihilismus: Die Ideologie des Antichristen?

Beitrag von Faust »

Magdalena61 hat geschrieben:Deinen Glauben teile ich nicht, das ist dir bekannt. Trotzdem streiten wir nicht verbissen miteinander. Irgendwie kann ich dich verstehen, obwohl es mir gleichzeitig auch Sorge bereitet, dass du jetzt den Islam bevorzugst. Du bist mir näher als so mancher Christ
Wenn dir etwas Sorgen bereiten sollte, dann nicht der Islam, sondern eher der Materialismus unsrer Zeit, der eine im Kern nihilistische Weltanschauung vermittelt. Gerne empfehle ich Dir ein Buch dazu: Nihilismus: die Ideologie des Antichristen — Der Glaube an das Nichts als Quell des Untergangs, Edition Hagia Sophia von dem orthodoxen Christen Seraphim Rose. Der Islam vermittelt eine spirituelle Weltanschauung und damit eine positive und lebensbejahende Wertorientierung und Seinsbegründung, weshalb er nicht das Problem ist, sondern viel mehr ein Teil der Lösung und mögliche Antwort auf das Problem des Nihilismus. Es gibt Gründe dafür, weshalb Frithjof Schuon, einer der großen Religionsphilosophen und Gelehrten der modernen Zeit, zum Islam konvertierte.

In meinem Falle gibt es zweifellos eine Sympathie für den Islam, doch dabei spielen die Affinitäten der Psyche eine Rolle, also ich fühle eine geistige Verwandtschaft mit den Symbolen dieser Religion. Wer durch Hingabe an Gott Frieden und Heil anstrebt, ist - dem reinen Wortsinn nach - ein M u s l i m; und das trifft auf mich zu. Mit Goethe kann ich darum sagen, dass ich „dem Verdacht nicht abgeneigt bin, selbst ein Muselmann“ zu sein. Goethe verspürte eine Seelenverwandtschaft zum Islam und das ist bei mir ähnlich. An dieser Stelle zitiere ich gerne den Emmauspilger.
Der christliche Glaube war einst Wurzel der Größe Europas. Im materialistischen Atheismus bzw. im atheistischen Materialismus versinkt es zu einer „Stadt ohne Gott“. Ein modernes und revolutionäres Heidentum will den Sieg erringen und bald wird diese Scheinwelt mit lautem Getöse zusammenbrechen. Es ist ein Kampf geistiger Mächte, eine Auseinandersetzung überirdischer Gewalten, ein Kampf zwischen Himmel und Hölle (Eph 6:12). Die Bosheit hat die Übermacht errungen, weil jahrhundertelang die göttliche Weltordnung zersetzt wurde. Die Menschen stehen nun ratlos in einer Welt, die aus den Fugen geraten ist.
Quelle

Der Islam ist mir in jedem Falle lieber und näher, als die „Stadt ohne Gott“. Alḥamdulillāh :) es ist gut möglich, dass es in der Zukunft eine neue Reformation, eine spirituelle Renaissance des Christentums geben wird. Das ist längst überfällig, meiner Ansicht nach. Dem stehe ich sehr positiv gegenüber. Tatsächlich sind alle religiösen Menschen, insbesondere die „Kinder Abrahams“, Brüder und Schwestern im Kampf gegen den Nihilismus. Es ist an der Zeit die Zeichen der Zeit richtig zu lesen, den Frontverlauf zu begreifen und den Feind zu identifizieren: die gottverneinende und damit letztlich lebensfeindliche Ideologie des Nihilismus. Heute konzentrieren sich viele Menschen auf das Negative, statt das Positive zu sehen, sie sind wie gefangen in einer Spirale der Negativität.
Das ist der Nihilismus.

All das ist ein Zeichen dafür, dass die Menschheit sich erinnern muss: erinnern an die lebendige Gegenwart Gottes. Von Gott - dem Einen - kommen wir und zu Ihm kehren wir zurück.
Wahrlich, im Gedenken Allahs finden die Herzen Ruhe. - Sure 13:28
"Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir. Denn auf Dich hin hast du uns geschaffen" (Augustinus: Bekenntnisse II/4).

Rembremerding

Re: Der Nihilismus: Die Ideologie des Antichristen?

Beitrag von Rembremerding »

Das ist ja das Philosophie-Unterforum, deshalb schwerere Kost:

Im Rationalismus verschafft sich das Denken Raum, erfasste den Raum, der zur Erdkugel wurde und die eigentliche Weite des menschlichen Geists einschränkte. Das Denken erfasste auch die Zeit, die zur Dauer wurde und damit ging die Ewigkeit verloren, z.B. in Millionen Jahren geologischer Abläufe unter den Füßen, aber nicht mehr in unendlicher Dauer über unseren Köpfen im Himmel. Dauer und das Beherrschen des Raumes lässt aber auch die Menschheit als Individuen sich besser vernetzen, zusammenarbeiten, lässt Wissen wachsen, gibt Fehlentwicklungen und Erfolge weiter an die Generationen, zunehmend outgesourct aus dem Denkapparat Gehirn in digitale Möglichkeiten. Das Tasten der Evolution wird zum Forschen des Menschen. Die Erfahrung der Evolution wird zum Gedächtnis des Menschen.

Und hier ist der Grad der Angst des kleinen Menschen gegenüber den unermesslichen Möglichkeiten und die Überwindung dieser Angst bedeutsam. Eine Verunsicherung, die größte seit Erlangung des Ich-Bewusstseins. Hier wird das widersprüchliche Menschenbild der Postmoderne bedeutsam. Es gib nur zwei Richtungen: Pessimismus oder Optimismus und nichts dazwischen.
Das Leben, welches durch Evolution sich verdichtet und wächst, lässt sich nicht aufhalten durch Hoffnungs- und Sinnlosigkeit, durch Nihilismus oder Existenzängste. Atheismus verneint im Grunde die Kraft des Lebens, der Glaube an Gott ist der Glaube an dieses Leben.

Es ist ebenso ein gesellschaftliches Problem, wenn sich Glauben und Leben in der Kirche oder im Islam der Gegenwart immer mehr entzweien. Es war Hegel, der dieses Auseinanderklaffen als eine Gestalt der Entfremdung der gesamten Neuzeit erkennt. Ihr ausgeprägter Individualismus, eine Emanzipation des Subjekts, ließ die äußere Welt immer mehr nur zum bloßen Objekt werden, zum toten Material, mit dessen Hilfe die moderne Wissenschaft und Technik immer perfekter die menschliche Herrschaft über die Welt ausüben kann. Die äußere Wirklichkeit wurde somit entmythologisiert, entwahrheitet (siehe Gender) und entsakralisiert. Die Religion indes zog sich immer mehr in das Subjekt zurück, wo sie zu einer inhaltslosen und leeren Sehnsucht nach dem Unendlichen wird. Das Ergebnis im Objekt und Subjekt ist eine gähnende Leere, denn die äußere Welt wird flach und banal, die innere Welt des Subjekts hohl und leer. Von beiden Seiten her tut sich ein sinnloses Nichts auf, ein Nihilismus. So steht die Identitätskrise der Kirche, aber auch die Reformunfähigkeit des Islam vor dem Hintergrund der Sinnkrise der modernen Gesellschaft.

Servus :wave:
Faust

Re: Der Nihilismus: Die Ideologie des Antichristen?

Beitrag von Faust »

Rembremerding hat geschrieben:Atheismus verneint im Grunde die Kraft des Lebens, der Glaube an Gott ist der Glaube an dieses Leben
Das ist eine sehr wichtige Erkenntnis :thumbup: Nietzsche bestimmt den Begriff des Nihilismus auf folgende Weise:
„Nihilism: es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ´Warum?` was bedeutet Nihilism? – daß die obersten Werthe sich entwerthen.“ (Friedrich Nietzsche, Werke, Achte Abteilung, Zweiter Band, Nachgelassene Fragmente Herbst 1887 bis März 1888, Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hrsg.), Berlin 1970, S. 14.)
... und damit wird das Leben entwertet, denn das ist zweifellos der oberste Wert. Der Glaube an Gott ist die Bejahung des Lebens, aber auch der Glaube an die Wahrheit, denn Die Wahrheit [al-haqq] ist einer der göttlichen Namen. El Emet – der Gott der Wahrheit (Psalm 31,6)
„Die ´wahre Welt` - eine Idee, die zu Nichts mehr nütz ist, nicht einmal mehr verpflichtend, - eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab!“ Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, in: Werke, Sechste Abteilung, Dritter Band, Berlin 1969, S. 75.
Wenn der Mensch Gott verliert, dann verliert er die Wahrheit und es bleiben nur noch unterschiedliche Perspektiven und Interpretationen der Welt übrig. Diese erkenntnistheoretische Position wird darum als Perspektivismus bezeichnet. Für den Nihilisten gibt es keine Wahrheit mehr, aber immer noch den Willen zur Macht. Nicht mehr die Wahrheit, sondern der berechnende Wille zur Macht - die instrumentelle Vernunft - entscheidet darüber, welche Interpretation der Welt bevorzugt werden soll. Auf den Verlust der Wahrheit folgt darum die skrupellose Machtpolitik, wie sie in der Welt von Game of Thrones dargestellt wird. Erwähnenswert ist, dass Michel Foucault (1926-1984), der wohl prominenteste Denker der Postmoderne, sich selbst als „Nietzscheaner“ bezeichnet.

Foucault sagte, dass „Wahrheit“ immer von der Perspektive der Betrachtenden und von Machtverhältnissen abhängt. Demnach ist „Wahrheit“ immer machtgeleitet und der Begriff besitzt keinerlei philosophischen und religiösen Wert mehr, so wie wir ihn verstehen. Frithjof Schuon beschreibt das in seinem Buch „Den Islam verstehen“ (Understanding Islam)
“When people want to be rid of Heaven it is logical to start by creating an atmosphere in which spiritual things appear out of place; in order to be able to declare successfully that God is unreal they have to construct around man a false reality, a reality that is inevitably inhuman because only the inhuman can exclude God. What is involved is a falsification of the imagination and so its destruction.”
― Frithjof Schuon, Understanding Islam
Es ist wichtig den heutigen Konflikt zwischen der islamischen Welt und dem Westen im Licht dieser historischen Zusammenhänge zu sehen. Das ist nicht der Konflikt zwischen dem Christentum und dem Islam, sondern der Konflikt zwischen einem gottlosen Nihilismus/Materialismus und einer gottesbewussten/spirituellen Weltanschauung und Lebensweise. Beispielsweise würde ein Muslim niemals auf die Idee kommen die Religion und die säkulare Welt voneinander zu trennen, da der Islam ein ganzheitliches Denksystem, eine Lebensform und eine erlebte Glaubenswirklichkeit ist, die in ihrer Spannweite das ganze Leben des Menschen umfasst. Das ist etwas, was ich persönlich sympathisch und anziehend finde, denn ich bin der Ansicht, dass der Mensch einer religiösen Lebensweise entweder ganz oder gar nicht folgen sollte.
Die äußere Wirklichkeit wurde somit entmythologisiert, entwahrheitet (siehe Gender) und entsakralisiert. Die Religion indes zog sich immer mehr in das Subjekt zurück, wo sie zu einer inhaltslosen und leeren Sehnsucht nach dem Unendlichen wird. Das Ergebnis im Objekt und Subjekt ist eine gähnende Leere, denn die äußere Welt wird flach und banal, die innere Welt des Subjekts hohl und leer. Von beiden Seiten her tut sich ein sinnloses Nichts auf, ein Nihilismus. So steht die Identitätskrise der Kirche, aber auch die Reformunfähigkeit des Islam vor dem Hintergrund der Sinnkrise der modernen Gesellschaft.
Das hast Du perfekt in Worte gefasst :Herz: wir können derzeit eine immer weiter fortschreitende spirituelle Verarmung der Menschheit beobachten. Das bedeutet, dass der lebendige Mensch - ausgestattet mit einem spirituellen Bewusstsein - selbst immer mehr verkümmert und zu einer Maschine in einer Maschinenwelt wird. Zombies, Untote und Vampire sind passende Metaphern dafür. Ein wirklich erschreckender Gedanke, nicht wahr? Viele Fernsehserien reflektieren das, wie Game of Thrones. In der Welt von George R.R. Martin passiert folgendes ...
Der Große Krieg (im Original: Great War) ist ein Konflikt, der sich im Anschluss an den Krieg jenseits der Mauer und den Krieg der Fünf Könige zuträgt. Dabei kämpft die Menschheit, also die Lebenden, unter der Führung von Jon Schnee, dem König des Nordens, gegen die Weißen Wanderer und ihre Armeen der Toten unter Führung des Nachtkönigs.
gamesofthrones.fandom.com

Wie jedes große künstlerische Werk handelt es sich dabei um einen Spiegel der realen Welt: die letzten verbliebenen spirituellen Menschen - die Lebenden - kämpfen gegen die Armee der Toten. Wenn wir fallen, dann haben die Maschinen gewonnen und wahres Menschsein ist aus der Welt verschwunden. Dann regiert nicht der Übermensch, wie manche Transhumanisten meinen, sondern der Unmensch. Das dürfen wir nicht zulassen :wave:
Zuletzt geändert von Faust am Do 7. Feb 2019, 17:35, insgesamt 2-mal geändert.
Rembremerding

Re: Der Nihilismus: Die Ideologie des Antichristen?

Beitrag von Rembremerding »

Faust hat geschrieben: Do 7. Feb 2019, 15:51 Das ist nicht der Konflikt zwischen dem Christentum und dem Islam, sondern der Konflikt zwischen einem gottlosen Nihilismus/Materialismus und einer gottesbewussten/spirituellen Weltanschauung und Lebensweise.
Muslimische Frauen gehen etwa in D bei Schwangerschaftsberatungen oder Frauenhäusern statistisch gesehen lieber zu katholischen Einrichtungen, als in säkulare, weil sie dort sicher sein können, dass Gott und das Leben Priorität besitzen. Hier zeigt sich, dass das Vertrauen in um Gott Wissende stärker ist, als die Frage nach welchem Gott.
Beispielsweise würde ein Muslim niemals auf die Idee kommen die Religion und die säkulare Welt voneinander zu trennen, da der Islam ein ganzheitliches Denksystem, eine Lebensform und eine erlebte Glaubenswirklichkeit ist, die in ihrer Spannweite das ganze Leben des Menschen umfasst.
Hier ein entscheidender Unterschied zum Christentum: Die Religion hat dort nicht die Aufgabe die säkulare Welt durch den Glauben zu retten, sondern den Glauben in der säkularen Welt auszuüben und sie so (vielleicht) zu verändern. Deshalb waren und sind alle Versuche einen christlichen Gottesstaat zu errichten gescheitert, weil der Glaube dafür letztlich keine Begründung liefert. Anders der Islam: Er will Gottes Reich auf Erden errichten, indem er etwa die Sharia als Maßstab setzt und dem alles andere unterordnet. Doch auch hier zeigt sich verzögert ebenso: Alle Macht der Menschen, die sie durch ihren Gott ausüben wollen, scheitert an der Macht, die Gott durch das Leben, sein Leben im Menschen ausübt. Alles, was sich letztlich gegen dieses göttliche Leben stellt, wird scheitern. Das etwa einst bei Wiedertäufer in Münster ebenso, wie bei Savonarola, den Taliban oder dem IS.
Nimm dich in acht vor Menschen, deren Gott nur auf Erden ist, aber fürchte dich vor jenen, deren Gott nur im Himmel wohnt!
Was dann aber ebenso heißt: Man ist verloren bei Menschen, die Gott nicht kennen wollen, denn sie kennen das Leben nicht.
Das ist etwas, was ich persönlich sympathisch und anziehend finde, denn ich bin der Ansicht, dass der Mensch einer religiösen Lebensweise entweder ganz oder gar nicht folgen sollte.
Hier berühren sich das Christentum und der Islam. Der Nihilismus hat auf das Leben keine Antwort.
Während man in der Religion eine Frage lebt, um irgendwann eine Antwort durch sein Leben zu erhalten, bleibt die Frage im Nihilismus aus, weil keine Antworten durch das Leben gesucht werden.
Der Atheismus kann nur nach dem Wie fragen, weiß aber nichts vom warum und wer.

Servus :wave:
Faust

Re: Der Nihilismus: Die Ideologie des Antichristen?

Beitrag von Faust »

Rembremerding hat geschrieben:Hier berühren sich das Christentum und der Islam. Der Nihilismus hat auf das Leben keine Antwort. Während man in der Religion eine Frage lebt, um irgendwann eine Antwort durch sein Leben zu erhalten, bleibt die Frage im Nihilismus aus, weil keine Antworten durch das Leben gesucht werden.Der Atheismus kann nur nach dem Wie fragen, weiß aber nichts vom warum und wer
Seraphim Rose geht davon aus, dass wir derzeit im nihilistischen Zeitalter leben, welches eine neue Welt und einen neuen Menschen schaffen möchte: ohne Bezug zum Göttlichen und ohne Hoffnung auf Sinn in Leben und Tod. „Der Nihilismus unseres Zeitalters ist in allem“, warnt Rose, „und wer nicht, mit Gottes Bestand, beschließt, ihn im Namen der Seinsfülle des lebendigen Gottes zu bekämpfen, den hat dieser bereits bezwungen. Wir sind an den Rand des Abgrunds zum Nichts gebracht, und wir werden, ob wir sein Wesen erkennen oder nicht, infolge der Affinität zu dem stets vorhandenen Nichts in uns ohne jede Hoffnung auf Erlösung von ihm verschlungen werden ― es sei denn, wir bleiben reinen und festen Glaubens in Christus, ohne den wir wahrlich nichts sind.“ ~ ich sympathisiere mit dieser Sichtweise und kann sie innerlich nachvollziehen.

Die Antwort des Christen auf den Nihilismus ist zweifellos das Bekenntnis zu Christus, wie es in dem traditionellen Ostergruß der orthodoxen Christen sichtbar wird: „Christos Anesti“ (Christus ist auferstanden) die literarische Welt von „Game of Thrones“, wie sie George R.R. Martin erschaffen hat, zeigt uns wie eine Welt ohne Christus - ohne „Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei...“ (1.Korinther 13,13) - aussehen könnte. Die Serie ist nicht nur sehr unterhaltsam (ich gebe es zu: ich bin ein Fan :D ) sondern auch eine geniale Zivilisationskritik.



Hier ein entscheidender Unterschied zum Christentum: Die Religion hat dort nicht die Aufgabe die säkulare Welt durch den Glauben zu retten, sondern den Glauben in der säkularen Welt auszuüben und sie so (vielleicht) zu verändern.
Ein Muslim kann konzeptuell gar nicht begreifen, was eine Trennung zwischen der Religion und dem säkularen Leben bedeuten soll, weil für ihn das ganze Leben mit der Religion identisch ist, eine ganzheitliche Lebensform, er lebt und stirbt im Islam und es gibt kein Sein außerhalb davon. Darum wird die „Initiative für einen säkularen Islam“ mit Sicherheit keinen großen Erfolg haben, denn das ergibt rein begrifflich gar keinen Sinn. Doch das ist nicht ungewöhnlich, wenn wir die Geschichte betrachten: konnten sich die Germanen oder Kelten ein Leben ohne Religion vorstellen? Beides gehörte für sie selbstverständlich zusammen und sie haben daran nie gezweifelt. Die germanische Religiosität kennt noch keine Trennung von Heiligem und Weltlichem, das ganze Leben ist von Religion durchdrungen und auf das Göttliche bezogen. Religion und Leben sind eins gewesen, ineinander verwoben; und erst der moderne Mensch hat eine gedankliche Trennung vollzogen.

Für unsre germanischen Ahnen wäre das vermutlich vollkommen undenkbar gewesen. Das hätten sie, glaube ich, eher als ein Zeichen für den nahenden Weltuntergang empfunden, wie es in der Vǫluspá – „Weissagung der Seherin“ - beschrieben wird.
Beilzeit, Schwertzeit,
zerschmetterte Schilde,
Windzeit, Wolfszeit,
bis einstürzt die Welt –
Die Götterdämmerung (Ragnarök) handelt vom Untergang der Götter, was dann auch zum Weltuntergang führt - beides hängt im germanischen Denken miteinander zusammen. Wenn das Heilige und Göttliche aus der Welt verschwindet, dann ist die Welt aus dem Gleichgewicht und dem Untergang geweiht: die Welt fällt in das Nichts. Allerdings folgt dann auf den Weltuntergang die Schöpfung einer neuen Welt.

Bild
Die neue Welt nach Ragnarök, wie sie in der Völuspá beschrieben wird (Zeichnung von Emil Doepler, 1905)
Hiob
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Re: Der Nihilismus: Die Ideologie des Antichristen?

Beitrag von Hiob »

Rembremerding hat geschrieben: Do 7. Feb 2019, 09:44Es war Hegel, der dieses Auseinanderklaffen als eine Gestalt der Entfremdung der gesamten Neuzeit erkennt. Ihr ausgeprägter Individualismus, eine Emanzipation des Subjekts, ließ die äußere Welt immer mehr nur zum bloßen Objekt werden, zum toten Material, mit dessen Hilfe die moderne Wissenschaft und Technik immer perfekter die menschliche Herrschaft über die Welt ausüben kann. Die äußere Wirklichkeit wurde somit entmythologisiert, entwahrheitet (siehe Gender) und entsakralisiert. Die Religion indes zog sich immer mehr in das Subjekt zurück, wo sie zu einer inhaltslosen und leeren Sehnsucht nach dem Unendlichen wird. Das Ergebnis im Objekt und Subjekt ist eine gähnende Leere, denn die äußere Welt wird flach und banal, die innere Welt des Subjekts hohl und leer. Von beiden Seiten her tut sich ein sinnloses Nichts auf, ein Nihilismus.
Hui - der war gut. - Das kannte ich von Hegel noch nicht - aber dass passt zu ihm wie die Faust aufs Auge.

Mir fällt dazu noch Friedrich Schlegel ein, der die meinungs-demokratische (und ebenfalls nihilistische) Neuzeit prophezeit, wenn er sagt: „Ein freier Mensch müsste sich selbst nach Belieben philosophisch oder philologisch, kritisch oder poetisch, historisch oder rhetorisch, antik oder modern stimmen können, ganz willkürlich, wie man ein Instrument stimmt, zu jeder Zeit und zu jedem Grade.“ (55. Lyceumsfragment). - Dies ist die Geburtsstunde des Lobbyismus.

Erkenntnis wird damit zum Dienstleister für Interessen. Dies erklärt unter anderem – ein Blick in die gesellschaftliche Praxis - , warum Statistiken und Gutachten zu identischen Fragestellungen so unterschiedlich ausfallen können, abhängig vom Auftraggeber, also Interessensvertreter. Gleichwohl können diese unterschiedlichen Bewertungen alle wahr sein im Verhältnis zum ihnen jeweils zugrundeliegenden System. Systemismus vieler einzelner Systeme führt somit zu einer „fortschrittlichen“ Bewertungs-Vielfalt, indem sie mannigfach beantwortet, WOZU zu welchem unterschiedlichen Zweck etwas gut ist, jedoch andererseits primär nicht fragt, OB etwas zum Zweck der Wahrheit gut ist. Fehlt eine übergeordnete Bewertungsinstanz, sind somit alle Bewertungen gleich gut, soweit sie gleich gut den Vorgaben des ihm jeweils zugrundeliegenden Systems entsprechen. Im Bild heißt dies: Maschinisten machen untereinander aus, wo es lang geht. Die Brücke bleibt unbesetzt. Systeminteresse steht über Wahrheit.
Faust

Re: Der Nihilismus: Die Ideologie des Antichristen?

Beitrag von Faust »

Rembremerding hat geschrieben:Was dann aber ebenso heißt: Man ist verloren bei Menschen, die Gott nicht kennen wollen, denn sie kennen das Leben nicht
Charakteristisch für die Moderne ist die Aussage von Wittgenstein: dass man schweigen müsse, worüber man nicht reden kann. Wir können allerdings reden, dank der göttlichen Offenbarung.
Rembremerding

Re: Der Nihilismus: Die Ideologie des Antichristen?

Beitrag von Rembremerding »

Hiob hat geschrieben: Do 7. Feb 2019, 21:21 Systeminteresse steht über Wahrheit.
Doch ist Systemismus der Postmoderne Folge des Nihilismus oder umgekehrt? Ist Systemismus die Antwort der Postmoderne auf die Angst vor dem Nihilismus ohne Gott? Ist Nihilismus jenes "Gespenst" im naturentfremdeten Menschen, das Religion hervorbrachte oder ist Nihilismus jenes "Gespenst", das ohne Gott und Religion einbricht?

Als die Frage nach dem Sinn dem Zweck zum Opfer fiel, das Woher vergessen, die Naturentfremdung begann, blieb immer noch so etwas wie der Wunsch nach Bergung einerseits und das Staunen im Menschen andererseits angelegt. Max Scheler (Die Stellung des Menschen im Kosmos):
Der Mensch konnte sich darüber verwundern (ϑαυμάζειν) und seinen erkennenden Geist in Bewegung setzen, das Absolute zu erfassen und sich in es einzugliedern – das ist der Ursprung der Metaphysik jeder Art; ... Er konnte aber auch aus dem unbezwinglichen Drang nach Bergung nicht nur seines Einzel-Seins, sondern zuvörderst seiner ganzen Gruppe, auf Grund und mit Hilfe des ungeheuren Phantasieüberschusses, der von vornherein im Gegensatz zum Tier in ihm angelegt ist, diese Seinssphäre mit beliebigen Gestalten bevölkern, um sich in deren Macht durch Kult und Ritus hineinzubergen, um etwas von Schutz und Hilfe »hinter sich« zu bekommen, da er im Grundakt seiner Naturentfremdung und -vergegenständlichung – und dem gleichzeitigen Werden seines Selbstseins und Selbstbewusstseins – ins pure Nichts zu fallen schien. Die Überwindung dieses Nihilismus in der Form solcher Bergungen, Stützungen ist das, was wir Religion nennen.
Faust hat geschrieben: Do 7. Feb 2019, 18:51 Die Götterdämmerung (Ragnarök) handelt vom Untergang der Götter, was dann auch zum Weltuntergang führt - beides hängt im germanischen Denken miteinander zusammen. Wenn das Heilige und Göttliche aus der Welt verschwindet, dann ist die Welt aus dem Gleichgewicht und dem Untergang geweiht: die Welt fällt in das Nichts. Allerdings folgt dann auf den Weltuntergang die Schöpfung einer neuen Welt.
Es gibt in der Forschung großen Zuspruch, dass eine neue Welt nach der Götterdämmerung der Germanen erst eine christliche Rezeption ist (etwa in der Gestalt von Baldur). Zuvor war sie, ein ziemlich einzigartiger Mythos in der Welt, ohne "Happy-End". Hat hier nicht der Nihilismus gesiegt, wenn selbst die Götter zerstört werden? Fast möchte man meinen, hier rührt der Weltschmerz der deutschen Romantik her.
Faust hat geschrieben: Do 7. Feb 2019, 23:07 Charakteristisch für die Moderne ist die Aussage von Wittgenstein: dass man schweigen müsse, worüber man nicht reden kann.
Der Mensch ist sich auch immer selbst Mythos. In ihm ist etwas, was ungesagt, aber immer schon war. Ein Mythos, der verschwiegen wird, bringt den Sinn des Seins nicht zur Sprache.
Wenn Worte fehlen, dann bleibt der Gedanke, der Archetyp dahinter doch bestehen.

Als die Menschen etwa begannen das Opfer Christi nur noch als Symbol zu betrachten, konnten sie auch beginnen, darüber zu schweigen, denn sie ließen sich nicht mehr davon berühren.


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Re: Der Nihilismus: Die Ideologie des Antichristen?

Beitrag von Hiob »

Rembremerding hat geschrieben: Do 7. Feb 2019, 23:25Doch ist Systemismus der Postmoderne Folge des Nihilismus oder umgekehrt?
Folge des Nihilismus, den es ja eigentlich spätestens mit dem Existenzialismus gibt - oder nicht?
Rembremerding hat geschrieben: Do 7. Feb 2019, 23:25Ist Systemismus die Antwort der Postmoderne auf die Angst vor dem Nihilismus ohne Gott?
Nee - aus meiner Sicht steckt dahinter der Trieb nach Objektivierung, Zertifizierung, Etikettierung. - "Wir haben kein lebendiges subjektives Verständnis, also ent-subjektivieren die Welt, indem wir alles zertifiziert bewerten". - Guck nur mal in die Gegenwart.
Rembremerding hat geschrieben: Do 7. Feb 2019, 23:25das Staunen im Menschen
Das ist in privaten Räumen erlaubt ("Wir hatten Spaß"/"Es war hyper-geil") - aber ECHT ist es oft NICHT.
Rembremerding hat geschrieben: Do 7. Feb 2019, 23:25Als die Menschen etwa begannen das Opfer Christi nur noch als Symbol zu betrachten, konnten sie auch beginnen, darüber zu schweigen, denn sie ließen sich nicht mehr davon berühren.
Richtig - die ganze Sprachphilosophie ist Folge einer Erkenntnis-Entkernung bei den Grundfragen des Lebens. - Wir sind in der Spätphase einer Kultur - Götterdämmerung.
Rembremerding

Re: Der Nihilismus: Die Ideologie des Antichristen?

Beitrag von Rembremerding »

Hiob hat geschrieben: Fr 8. Feb 2019, 01:29
Nee - aus meiner Sicht steckt dahinter der Trieb nach Objektivierung, Zertifizierung, Etikettierung. - "Wir haben kein lebendiges subjektives Verständnis, also ent-subjektivieren die Welt, indem wir alles zertifiziert bewerten". - Guck nur mal in die Gegenwart.
Das ist richtig. Aber ist das denn nicht lediglich eine "Ersatzbefriedigung"? Aus meiner Sicht ist Objektivierung der logische Versuch des Materialismus die durch ihn geschehene Leere im Innern des Menschen und die Banalität der Welt wieder mit irgendeinen Sinn zu erfüllen. Man gibt dem Objekt wieder einen Wert, den man mit seinem Sinn verwechselt, in dem man es zertifiziert, innerhalb seines Systems korrekt darstellt und funktionell gestaltet.
Das Tragische dabei ist, dass der Materialist dies nicht nur mit leblosen Dingen tun will, sondern auch am Menschen vollzieht: Von nun an muss er Normen erfüllen, die rechte Meinung besitzen, um im jeweils seinem System Bestand zu haben.
Aber gehen wir tiefer: Ist diese Bewegung nicht der verzweifelte Versuch die verlorene Sicherheit der Wahrheit wieder selbst irgendwie herzustellen? Dem Menschen wird ohne Gott die Möglichkeit des Urvertrauens genommen, aber ohne diese in ihm angelegte Sehnsucht "verliert" er sich, meint sich einerseits als Herr und Meister aller Dinge, wird aber als Entwurzelter seines eigentlichen Seins zum unbedeutendsten und bedauerlichsten aller Wesen auf Erden.
Richtig - die ganze Sprachphilosophie ist Folge einer Erkenntnis-Entkernung bei den Grundfragen des Lebens. - Wir sind in der Spätphase einer Kultur - Götterdämmerung.
Das ist leider so.
Und Sprache ist auch immer Ausdruck der Psyche der sie sprechenden Gesellschaft.
Aber bleiben wir beim Nihilismus:
Kann er nicht auch jenes sein, der unseren Mangel erst erkennen lässt und die Suche nach etwas über uns erst beflügelt?
Dann wäre der Nihilismus im Materialismus unserer Tage das Ergebnis der Vergötterung des Menschen, der aber gleichzeitig widersprüchlich als Nichts (vom Affen abstammend, lediglich trieb-, gen- oder hormongesteuert und zu Verantwortung nicht fähig) dargestellt wird.
Das Nichts macht sich zum Gott eines Nichts. Eigentlich logisch oder? :)

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