Brillen - zum Brüllen
Diesmal war es Lenas. Lenas Brille. Lenas Brille war verbogen. Schuld war das Mittagessen. Papis Mittagessen. Und Mami. Mami machte das Mittagessen für Papi warm, der kam um drei aus der Frühschicht. Als Mami gerade am Herd hantierte, kam Lena ihr zu nahe. Mami drehte sich - und erwischte Lenas Brille mit dem linken Ellenbogen. Lena verzog etwas das Gesicht. Es hatte wehgetan. Doch das ging schnell vorbei. Die Brille jedoch nicht. Die blieb verbogen.
Aber weil Mami mit Marie sowieso gerade zum Augenarzt mußte, konnte Lena gleich zum Brillengeschäft mitkommen, die Brille wieder richten zu lassen.
Dann - noch am Abend des selben Tages - war es Ellens Brille. Lydia und Ellen waren etwas uneins miteinander - ein kurzes Wortgefecht - eine ungeschickte Bewegung, und Lydia saß auf Ellens Gesicht. Zwischen ihrem Gesäß und Ellens Gesicht aber saß - genau! - die Brille. Nun war sie verbogen. Die Brille. Ellen auch etwas, aber das ging vorüber. Die Brille jedoch nicht. Sie blieb verbogen. Ellen würde am kommenden Tag mit dem Bus in die Stadt fahren, zum Optikerladen, und die Brille richten lassen.
Vor etwa drei Wochen war es. Ellens Brille. Ellen kam aus der Schule - das Gesicht nackt und bloß, jeglichen optischen Akademikerscheins entblößt. An der Stirne, dicht über der linken Augenbraue, eine blutunterlaufene Schmarre. Eine Schulkameradin hatte während des Sportunterrichts - ich war schon immer der Meinung, Sport sei gefährlich - einen Ball in ihrer Richtung geworfen - und getroffen. Genau auf die Zwölf - will sagen, auf die Brille. Klarer Fall, ein Versicherungsfall.
Glücklicherweise leben wir ja in einem entbürokratisierten Land. Ein knappes halbes hundert Anrufe in der Schule, 38 Anträge - schon kann die neue Brille anrauschen. Ellen sucht sich ein besonders hübsches Exemplar aus. Doch dann kam jener Abend, an dem Lydia - aber das wissen Sie ja schon.
Also - wenn ich heute das Wort „Brille" lese oder höre, besonders, wenn meine Frau oder meine Töchter dieses blutigrote Reizwort aussprechen, womöglich noch in Verbindung gebracht mit einem jener verhängnisvollen Worte wie „kaputt" oder „verbogen", bekomme ich rote Flecken im Gesicht und es wabern rote Wolken vor meinen Augen. Angefangen hatte alles damit, daß ich mich auf die Brille meiner Frau setzte. Meine Frau allerdings, glücklicherweise, stand zu diesem Zeitpunkt in keinerlei körperlicher Verbindung zu jener Brille, sie hatte sie abgelegt - auf einen Stuhl, seit ewigen Zeiten der beste Platz, auf welchem man eine Brille abzulegen pflegt.
Dann wurden nach und nach unsere vier Töchter geboren - teilweise schon mit Brille...
Und je nach Jahreszeit, Luftfeuchtigkeit, Windrichtung und Sonnenfleckenaktivitäten war mal die Brille der einen, mal der anderen dran.
Eines Tages hatte meine Frau einen schweren Unfall und weilte eine geraume Zeit im Krankenhaus. Freunde hatten uns mutterlose Familie zu Essen eingeladen. Die kleine Marie erging sich an der winterlichen Frischluft. Irgendwann kam sie herein - bestürzt und weinend - und ohne Brille. Deren Reste trug sie in der Hand. Sie war ausgerutscht und gefallen. Die Marie. Die Brille hatte als eine Art Notbremse fungiert. Eine völlig neue Funktion dieses optischen Gerätes. Können sie sich den Akt vorstellen? Papi, der als Strohwitwer in der ohnehin knappen Zeit Töchterlein eine Brille aussuchen muß? Grausam, sage ich ihnen, grausam.
Wenn Lena und Marie im Verlaufe ihrer geschwisterlichen Auseinandersetzungen hin und wieder zu den Mitteln des non-verbalen Austausches greifen - die Brillen sind unter Garantie als Angriffs- oder Verteidigungswaffe dabei. Sie sind die wahren Leidtragenden in unserer Familie.
Ellen war mit der Schulklasse auf einem Tagesausflug. Der fand auf einem wunderschönen Spielplatz seinen Höhepunkt. Ein Klassenkamerad rutschte von der Rutsche - oder fiel er vom Klettergerüst - egal: Er plumpste auf Ellen. Die blieb relativ unverletzt. Doch die Brille...
Marie hat eine recht eigene Vorstellung von Ordnung. So legte sie in einem Anfall von Ordnungswut ihre Brille sauber und ordentlich auf den Fußboden im Kinderzimmer. Ihr ungeschicktes Schwesterherz Lena hatte selbstverständlich nichts besseres zu tun, als nämliche Brille mit den Füßen zu traktieren.
Ich hatte mich eines Nachmittags zum Ausruhen ein wenig aufs Bett gelegt. Weil sie mir lästig war, legte ich meine Brille auf eben diesem Bett ab. Ich muß dann wohl auf der Brille eingeschlafen sein...
Unsere Lizzy, ihres Zeichens wahrscheinlich wichtigstes Mitglied unserer Familie, hatte auch eine Brille. Des Eindruckes wegen. Edel sah sie damit aus, edel und klug. Eines Tages, es war einer jener sommerlich warmen Frühherbsttage, an denen Hündinnen besondere Sehnsucht nach einem feschen Rüden verspüren und an dem die überreifen Brillen zentnerweise von den Brillenbäumen fallen, begegnete unserer Lizzy ein solch fescher Rüde. Ein golden Retriever - oder war es ein Pekinese? - näherte sich ihr auf behutsamen Pfoten. Freundlich lächelnd begann er Lizzy zu umwerben, bis sie bereit war, seinem Werben nachzugeben und ihm erlaubte, sich ihr zu nähern.
So näherte sich dieser fesche, freche Rüde also - sprang auf unsere Lizzy zu, schnappte sich ihre Brille - und sprang auf und davon. Ein klarer Fall von Brillnapping.
Wir konnten indessen unserer Lizzy den Vorwurf nicht ersparen, diesem Rüden gegenüber zu vertrauensselig gewesen zu sein. Sie hätte erkennen können, ja erkennen müssen, daß der lüsterne Vierbeiner es nur auf ihre Brille, jedoch nicht auf ihre Keuschheit abgesehen hatte. So bleibt unsere Lizzy seither unbebrillt. Es ist ganz offensichtlich, daß ihr dieses brillenlose Dasein mißfällt. Demonstrativ beißt sie nun statt in die Wade unseres jungen Briefträgers täglich einmal in den metallenen Pfosten unseres Gartenzauns. Doch wir geben nicht nach, auch wenn Lizzys Zähne schon einen bedenklichen Grad der Abnutzung erkennen lassen. Schließlich - sie ist der Hund, wir sind die Menschen, auch, wenn sie anderer Ansicht zu sein scheint.
Einzeln aufzählen kann ich sie nicht mehr, die Brillen, welche in unserer Familie ihr Leben aushauchten. Vom Blitz getroffene Brillen, zersessene Brillen, vom Hund gefressene Brillen, Brillen unter den Trümmern eines Hochhauses begraben, die andere vom Erdbeben zerstört. Brillen auf dem Matterhorn erfroren, in der stürmischen Ostsee elendiglich ersoffen, in sommerlicher Hitze zerschmolzen, in zu heftig zugeklappten schlechten Büchern zerdrückt, beim Wurf nach lästigen Kerbtieren zerschmettert, während der Heimwerkerarbeit zersägt, beim Nähen mit der Nähmaschine zernadelt, beim Hausputz zerwienert, beim Kloreinigen ..., beim Basteln zerlötet oder beim Betongießen einbetoniert - endlos die Liste, endlos das Leid.
Kürzlich war ich zu Fuß in der Stadt. Dort begegnete ich - reine Unaufmerksamkeit war die Ursache dafür - bei roter Fußgängerampel frontal einem etwa 300 Tonnen wiegenden, tief- und schnellfliegenden LKW. Sterbend lag ich im Rinnstein - mit mir meine Brille. Meine letzten Worte - ich erinnere mich genau - waren: „Ich bin nicht wichtig - aber rettet meine Brille."
Der großartige Komiker Heinz Erhardt muß das ähnlich empfunden haben, nur drückte er es poetischer aus: „Das Leben", sinnierte der Spaßmacher einst, „Das Leben ist wie die Brille. Man macht viel durch." Hat er nicht recht?
Brillen - zum Brüllen
- Magdalena61
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Re: Brillen - zum Brüllen
zu jener Brille, sie hatte sie abgelegt - auf einen Stuhl, seit ewigen Zeiten der beste Platz, auf welchem man eine Brille abzulegen pflegt.
O ja. O ja.
Köstlich.
LG
God bless you all for what you all have done for me.
- Magdalena61
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Re: Brillen - zum Brüllen
Die Lehne einer Sitzgelegenheit als Ablageplatz zu nützen ist auch gefährlich für eine Brille.zu jener Brille, sie hatte sie abgelegt - auf einen Stuhl, seit ewigen Zeiten der beste Platz, auf welchem man eine Brille abzulegen pflegt.
Auf der Terrasse steht eine Gartenbank, die ich vor einigen Jahren vor dem Sperrmüll gerettet hatte. Schön mit Polstern und so.
Auf dieser Bank sitze ich, wenn ich die Post lese oder eine Kaffeepause mache.
Wenn ich Beete neu anlege, muß ich die Brille tragen. Denn in der Erde sind manchmal Scherben, auch ganz kleine oder grüne Stücke, und die sind oftmals mit Erde verschmutzt, sodass man sie kaum sieht. Seitdem ich mich einmal böse geschnitten hatte, weil ich nicht registrierte, dass da eine Scherbe in der Erde steckte, ziehe ich für solche Tätigkeiten lieber die Brille an. (Ich bin weitsichtig)
Aber für das gewöhnliche Leben brauche ich sie nicht, da ist sie mir nur lästig. Also deponiere ich die "Gartenbrille" auf der Terrasse, zweckmäßigerweise ... na ja, ich hängte sie auf die Lehne der Bank, damit sich keiner draufsetzt. Einen Tisch gibt es nämlich nicht. Und jedes Mal mit ins Haus nehmen, nein, das ist auch nichts, dann vergißt man sie und muß extra zurücklaufen, um sie zu holen.
O.k., diese Brille ist auch entzwei. Einer der Söhne hatte sie nicht gesehen und sich angelehnt---
Jetzt stehe ich jedes Mal auf und hänge die (nächste) Brille an eine Öse knapp unter dem Dach. Mal sehen, wie lange das gut geht.
LG
God bless you all for what you all have done for me.