ProfDrVonUndZu hat geschrieben: ↑Di 26. Jan 2021, 18:28
Johannes spricht aber vom kommenden Geist des Antichristen, der auch schon zu seiner Zeit in der Welt war. Wenn er in der Welt war, so meint er damit, dass er bereits durch Menschen verkörpert wurde. Es geht Johannes nicht um die Verkörperung des einen per excellence, sondern er warnt vor der Gefahr des Geistes. Paulus wiederum spricht vom kommenden Sohn des Verderbens nicht als von einer Staatsmacht, sondern von jemandem, der sich in den Tempel Gottes setzt, also in die Gemeinde als Leib Christi. Er kann also kein polischer Herrscher sein, sondern ein Agitator mit ideologischem Einfluss. Ich glaube ja, dass mit dem Geist des Antichristen ein Ideal von einem Menschenbild gemeint ist, das politisch instrumentalisiert wird.
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Hallo Prof.!
Zu solchem Schluss kommt man, wenn man lediglich einige das Thema betreffenden Schriftstellen in Betracht zieht.
Offenbarung 13 z.B. spricht von einem politischen Machtgebilde, aber auch von einer Person (Vers 18).
Die in Offenbarung 19,20 erwähnten “Tiere” kann man kaum anders als auf zwei natürliche Personen deuten.
In Offenbarung 11.7-8 ist mit dem “Tier” das Herrschaftssystem gemeint, bei den beiden Zeugen handelt es sich zweifellos um natürliche Personen (wird auch von den meisten Theologen nicht anders gesehen).
2. Thessalonicher spricht von einer Person, die sich in den Tempel setzt. Auch ich bin der Überzeugung, dass Paulus als er den Brief schrieb (um das Jahr 50 soll das gewesen sein), die Offenbarung nicht kannte.
Zu Offenbarung 17,11.12: Man könnte ohne die Kenntnis dagegen sprechender Schriftstellen die Auffassung vertreten, dass der Achte, dem die Vertreter von zehn Staaten zumindest Teile ihre Souveränität übertragen, keine natürliche Person, sondern eine Staatsmacht sei.
Der Begriff “Antichrist” kann sich meiner Meinung nach nicht auf den “falschen Propheten” beziehen, sondern auf das erste der in Offenbarung genannten zwei “Tiere". Das erste Tier ist aber zweifellos auch ein politischer Herrscher.
Dass auch in heutiger Zeit die Trennung zwischen Staat und Religion keineswegs so vollständig wie von Naturalisten ersehnt ist, zeigt der folgende vor einiger Zeit in der FAZ erschienene Artikel (ich hatte diesen schon mehrfach eingestellt).
Wenige Tage vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler hielt sich der ungarische Schriftsteller und Journalist Sándor Márai in Berlin auf. “The Hungarien Quarterly” druckte damals seine in Ungarn erschiene Reportage “Der Messias im Sportpalast” ab. Die fünfundzwanzigtausend Plätze für Hitlers Auftritt sind schon mehrere Tage zuvor ausverkauft. Vier Stunden vor Beginn strömen Hunderte uniformierte Nationalsozialisten aus allen Teilen der Bewegung mit ihren Familien zu den Toren des Sportpalasts. Beim Einlass zwei Stunden vor Veranstaltungsbeginn postiert sich eine große Gruppe von SA-Leuten sorgfältig vor dem Podium.
Weitere NS-Uniformierte sichern die Flanken und den Durchgang zur Rednerbühne, der nun sichtlich eng geworden ist und der Schriftsteller an Wilhelm Tells Monolog denken lässt: “Durch diese hohle Gasse muss er kommen.” Als ausländischer Korrespondent darf er auch ganz nach vorne, eskortiert von einem SA-Mann, der eigentlich recht freundlich wirkt: “Wenn sie nicht gerade morden, können sie einen fast schon angenehmen Eindruck machen”, notier Márai. Eine Sirene kündigt an, dass Hitler auf dem Weg sei. Aufmarsch und Befehlsgeschrei seiner Getreuen, die hinter dem Podium mit Fahnen Aufstellung nehmen, unterbrechen die schlagartig eingetretene Stille. Die Spannung steigt, mehrere Besucher werden ohnmächtig und auf Tragbahren weggebracht - hier offenbar Routine. Bei der Ansage “Der Führer kommt!” erhebt sich die gewaltige Menge zum Hitlergruß und schreit immer wieder “Heil!” “Jetzt, wo ich das höre”, schreibt Márai, “wird mir der Erfolg der Nationalsozialisten schlagartig klar. So schreien nur Derwische oder Menschen in Todesverzweiflung.”
Hitler mute wie ein Asket an, er wirke eher unmännlich. Nach kurzer Begrüßungszeremonie und dem Ausklang der Parteilieder sitzt er unbeweglich, in Gedanken versunken. Lange herrscht Stille: “Das hier”, so Márai, “ist weder Politik noch Parteiversammlung, sondern Religion, Anbetung.” Dann ergreife der Messias das Wort und wiederhole Phrasen, die seine Anhänger längst auswendig kennten. Seine Entourage: “Gesindel, standardisiert: organisierte Stupidität, mobilisierter Herdeninstinkt.” Spätestens jetzt beschleicht Márai das mulmige Gefühl, mit Tausenden von Irren eingesperrt zu sein. Unmittelbar nach Hitlers Rede verlässt der ungarische Gast fast schon fluchtartig die Veranstaltung. Draußen fallen ihm noch die auffallend zahlreichen Limousinen ins Auge: die dunkle Macht hinter dem NS-Mob.*)
*) Joseph Croitoru: Ein Messias im Sportpalast. Chamberlain, Lenin und Hitler: Totalitäre Versuchungen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Ausgabe vom 02. Oktober 2007.