Abischai hat geschrieben: ↑Mi 22. Dez 2021, 18:04
Ganz wichtig für eine Sekte oder Religion ist eine exklusive "heilige" Schrift, das gibt es noch nicht.
So eine "heilige" Schrift gibt es vielleicht nicht als öffentlich zugängliches kanonisiertes Manifest, aber Grundlagen der
Positivismus-Sekte, so benenne ich das mal, sind schon eine selektive Auswahl wissenschaftlicher Studien und bestimmte Interpretationen von Statistiken, durchgeführt, gesammelt, gesichtet und bewertet von einem Kreis von
erleuchteten Priestern und
berufenen Propheten... äh
qualifizierten und
erfahrenen Experten, Gutachtern und Sachverständigen. Konspirative Vermutungen sind natürlich schon deswegen unsinnig, weil unter den verdächtigen Akteuren schon viel zu viel Konkurrenz und Uneinigkeit herrscht. Eigentlich sind alle Akteure nur Trittbrettfahrer oder Opportunisten. Was es aber in der Realität gibt, geben muss, das ist ein Zusammenwirken aller Akteure auf einer Metabene, für die es keine Absicht oder Gemeinsinn braucht. Statt Verschwörungstheorie müsste man das zumindest in diesem Fall eher Kollusionspraxis nennen.
Mit einer offiziellen Religion mit einem geforderten Bekenntnis und kontrollierten Strukturen hat das wenig zu tun, unabhängig von existierenden und diesem nützlich zuwirkenden Strukturen. Wir haben es hier mit systemischen Dynamiken zu tun, die sich irgendwo dazwischen bewegen. Zwischen den Absichten und dem Wollen von Menschen. Ja was können denn die Menschen dafür ? Eigentlich nichts, aber eigentlich auch doch, weil Menschen sind vielleicht dumm, aber so dumm nun auch wieder nicht. Sie können Dinge erkennen, die sie zunächst nicht erkennen. Sie sind in der Lage Dinge, Mechanismen und Funktionen zu entdecken und dann können sie auch beeinflusst werden.
Wir haben es mit einer unsichtbaren Religion zu tun. Damit meine ich nicht die
Unsichtbare Religion im Sinne Luckmanns, der in diesem Falle die Selbstverwirklichung im Kapitalismus durch Konsumfreiheit meinte.
Mit unsichtbarer Religion meine ich eine hinter Rationalitäts und Objektivitätsgewissheit versteckte Religion, die sich als frei von jeder Weltanschauung hält und nur die sichtbaren Fakten gelten zu lassen glaubt. Deswegen der oben von mir gewählte Name für diese Sekte. Natürlich ist das wie gesagt keine Sekte im institutionalisierten Sinn. Es ist mehr der Habitus der Akteure, der sie zusammen wie eine Sekte erscheinen lässt. Es ist eine Ritual ausübende Praxis, die sich selber als bloße Weltanschauung nicht erkennt und anerkennt aber auch jeden Hinweis darauf absolut leugnen würde. Sie muss das so machen, weil das Teil ihrer Immunisierungsstrategie ist ähnlich einem päpstlichen Unefehlbarkeitsdogma. Auch der Papst ist ja generell als Person nicht unfehlbar und man gesteht ihm Fehlbarkeit durchaus zu, allerdings in seiner Funktion als Papst und Verkünder von Beschlüssen, gilt er als unfehlbar und endgültig. Was wissenschaftlicher Konsens ist, das ist wissenschaftlicher Konsens. Und hat man sich geirrt, dann waren die Erkenntnise in der bestimmten Situation richtig, angebracht und alternativlos und die durch den Konsens erst später offenbarten Missstände, die man vorher deswegen nicht wissen konnte, weil ja nichts Erkennbares dazu in der Welt gewesen wäre, haben dazu lernen lassen, was dann künftig berücksichtig wird. "Die Impfpflicht hielt man früher nicht für nötig, nun aber habe sich durch die neue Situation gezeigt, dass sie doch nötig sei" - "
Man irrt sich vorwärts", hab ich Lesch sagen hören, wobei dieser Satz laut Precht schon von Robert Musil stammen soll. Ja man irrt sich nach vorne, auf Blutspuren !
Interessant in diesem Zusammenhang der vom Soziologen Bourdieu reklamierte griechische Begriff Doxa.
Unter Doxa versteht Bourdieu hingegen alle als selbstverständlich wahrgenommenen Überzeugungen, Klassifikationen[3] und Annahmen. Außerdem sind sich die Menschen in einer Gesellschaft mehr oder weniger bewusst, was als kollektive Meinung oder Streitthema gilt. Beide Punkte treffen jedoch nicht auf die Doxa zu: Doxische Wirklichkeitsüberzeugungen sind laut Bourdieu weder den Menschen bewusst[4], noch werden sie über Sprache regelmäßig stabilisiert.[5] Sie werden von den Menschen als selbstevident, natürlich oder unanfechtbar wahrgenommen. Doxische Überzeugungen werden somit in Gesellschaften fast nie kritisch hinterfragt und entziehen sich öffentlichen Diskursen und Debatten.
„Paradoxerweise ist nichts dogmatischer als eine doxa, dies Ensemble grundlegender Glaubensinhalte, die nicht einmal in Form eines expliziten, seiner selbst bewußten Dogmas affirmiert werden müssen.“[6]
[...]
Die Analyse und Kritik von Macht und Herrschaft in unterschiedlichen Kulturen und Geschichtsperioden durchzieht Bourdieus Werke.[9] Laut Bourdieu sind die unzähligen Herrschaftsformen der Vergangenheit und der Gegenwart zu einem hohen Grad willkürlich. Dieser Willkürcharakter wird an vielen Stellen betont.[10] Das bedeutet, dass sich Formen von Herrschaft inhaltlich und strukturell sehr stark voneinander unterscheiden. Trotz dieser großen Unterschiede gelingt es den meisten Herrschenden, sich in der Gesellschaft Legitimität zu verschaffen. Einen Grund dafür sieht Bourdieu eben in der Doxa: Nicht-hinterfragbare Selbstverständlichkeiten, also bestimmte doxische Überzeugungen, stabilisieren und legitimieren Herrschaft.[11] Durch die Doxa werden die Herrschaftsstrukturen außerdem unsichtbar gemacht und verschleiert. Herrschaft wird dann von den Untertanen nicht mehr als Herrschaft wahrgenommen, sondern als selbstverständlich, natürlich, legitim oder notwendig gedeutet.
„Jede herrschende Ordnung weist die Tendenz auf – allerdings auf unterschiedlicher Stufe und mit je anderen Mitteln –, ihren spezifischen Willkürcharakter zu naturalisieren.“[12]
Herrschende Gruppen profitieren somit von der Mitgestaltung der Doxa in einer Gesellschaft oder einem Feld. Die Doxa wirkt letztendlich herrschaftsstabilisierend.[13]
https://de.wikipedia.org/wiki/Doxa_(Soziologie)