Der folgende Auszug entstammt dem Buch: Rudolf Steiner, die Biografie von Hellmut Zander (Piper Verlag) und ist ein Auszug ab Seite 133 (wegen der begrenzten Wortanzahl pro Beitrag (1000) wurde er auf drei aufgesplittet = und ist aus dem e-bock kopiert, dass sich in meinem Besitz befindet)
Christologie.
Kampf um das esoterische Christentum
Irgendwann im Jahr 1906 ist es passiert. Genauer gesagt, im Laufe des Jahres 1906, denn die Zeitangabe »irgendwann« lässt das Missverständnis zu, als gebe es den Tag oder gar die Stunde. Nein, es ist vermutlich in Schüben passiert: Im Lauf des Jahres 1906 ist er zum Christen geworden. 1906 ist das geistliche Taufjahr des Dr. Steiner.
Anthroposophen können inbrünstig bestreiten, dass Steiner einmal kein Christ gewesen sei, während Kritiker manchmal den totalen Bruch zwischen dem katholisch getauften und dem theosophisch initiierten Steiner konstruieren. Aber die Wahrheit liegt nicht wirklich zwischen beiden Alternativen, denn Steiner war vor 1900 überhaupt kein Christ in einem belastbaren Sinn des Wortes. Nur zur Erinnerung: Er war das Kind aus dem Haus eines »Freigeistes« und hat einen schwachen volkskirchlichen Kontakt mit der katholischen Tradition gehabt, er hatte eine atheistische Phase durchlebt, in der er 1898 aufgerufen hatte, ein »neues Geschlecht« entstehen zu lassen, »das zu leben weiß, befriedigt, heiter und stolz, ohne Christentum«. Mit dem Eintritt in die Theosophie hatte sich dann viel verändert. Diesen Wandlungsprozess hat Steiner in seinen Vorträgen zu Protokoll gegeben. Deshalb können wir nachvollziehen, wie er den christologischen Text Woche für Woche geknüpft hat: Wie er manchmal von außen getrieben wurde und manchmal seine eigenen Ideen entwickelte – und wie meist alles zugleich und miteinander verzwirnt passierte.
Die Metamorphose des theosophischen Jesus
Steiners Christianisierung beginnt mit den theosophischen Kontakten seit dem Jahr 1900. In seinem Buch Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens von 1901 kommt Christus erstmals als Gegenstand intensiven Nachdenkens vor, aber nur dort, wo Steiner die Auffassungen von »Mystikern« referiert. Ein Jahr später, in Das Christentum als mystische Tatsache, ist Jesus in die theosophische Weltanschauung integriert. Er gilt nun als ein Eingeweihter – und nicht als Christus, wie er ihn später und wie ihn das kirchliche Christentum versteht. Immerhin: Jesus sei ein besonders hoher Initiierter, dem zu »der Buddha-Initiation« eine »höhere Weihe« »im Sinne des Osiris-Mythus« hinzugefügt worden sei, doch er bleibt, ganz im theosophischen Verständnis ein Eingeweihter unter vielen. Über diese Schiene findet Steiner zu der Vorstellung von Jesus als dem besonderen Menschen. In dieser Jesus-Lehre ohne einen göttlichen Christus bringt Steiner auch die Auferstehung unter. Er deutet sie nicht als Auferweckung eines Toten, sondern als Erfahrung in einer Mysterienhandlung. Auferstehung als inneres Erlebnis »in der Seele des eingeweihten Menschen«: »Die Auferstehung, die Erlösung Gottes: das ist die Erkenntnis.« Ganz vereinzelt, etwa im Sommer 1903, bezieht Steiner auch eine göttliche, christologische Komponente mit ein, wenn er von »Jesus, in dem der Christus verkörpert ist«, spricht. Aber von einer »Christologie« kann keine Rede sein. Und die Tatsache, dass Jesus (und marginal Christus) in Steiners Gesichtskreis trat, hieß lange noch nicht, dass das Christentum ins Zentrum seines Denkens getreten wäre. Wie nebensächlich es damals noch war, dokumentieren die bis zum September 1905 publizierten Aufsätze des »Erkenntnispfades« Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, wo das Christentum nicht einmal in Beispielen eine Rolle spielt.
1906 jedoch erklingt ein neuer Ton in Steiners Vorträgen. Wenn er im Februar meint, eine »tiefe Verwandtschaft des Christus Jesus mit dem Gottmenschen, der in jedem Menschen veranlagt ist«, zu sehen, ist Christus als eine Art inneres Prinzip des Menschen verstanden und zugleich Jesus in die Nähe des Göttlichen gerückt. Diese Vergöttlichung Jesu durch »den Christus« (mit Artikel, wie Steiner sagen wird) macht den Mysterientheoretiker Steiner langsam zum Christusgläubigen. Er beginnt, Jesus aus der Schar der Eingeweihten zu lösen, indem er ihn christologisch überhöht und auf den Gipfel der Religionsgeschichte stellt: über Buddha, über Zarathustra, über alle anderen Religionen – gegen die Lehre von der Gleichheit aller Religionen in der Theosophie.
Im Mai 1906 verkündet Steiner, dass die Einweihung in die antiken Mysterien »in dem Christus ihre Krönung« finde, und vierzehn Tage später, dass »das Karma und der Christus … der Inbegriff der ganzen Evolution« seien. Nochmals einen Monat später, am 10. Juli 1906 – Steiner hatte seit einem halben Jahr begonnen, maurerische Zeremonien zu inszenieren –, doziert er über drei »Einweihungsformen«: Der »orientalischen Schulung«, in der die »bedingungslose« Autorität des »Geheimschülers« gegenüber dem »Guru« herrsche, stellt er als leuchtende Alternative die »allerfreieste«, die »rosenkreuzerische« »Schulungsart« gegenüber. Dazwischen liege die »christliche« »Einweihungsform« mit ihren sieben symbolischen »Stufen« der Fußwaschung, Geißelung, Dornenkrönung, Kreuzigung, des mystischen Todes, der Grablegung und der Auferstehung. Bemerkenswert ist an dieser Stelle weniger, dass er seine Schulung durch die Abwertung anderer Wege überhöht, sondern dass er Praktiken der christlichen Spiritualitätstradition aufruft. Es geht nun nicht mehr nur um vergleichsweise abstrakte Vorstellungen über Jesus und »den Christus«, sondern um Elemente, die zu einer praktizierten Spiritualität gehört haben könnten. Dass eine »mystische« Grablegung nebst Tod und Auferstehung in der seit wenigen Monaten praktizierten freimaurerischen Erhebung in den Meistergrad eine zentrale Rolle spielt, ist eine aufschlussreiche Koinzidenz – über die Konsequenzen werden wir noch spekulieren (s. Kap. 15).
Am 2. Dezember 1906 geht Steiner noch einen Schritt weiter. »Jesus wurde Christus im dreißigsten Jahre seines Lebens«, so lehrt er in Anlehnung an die Tauf-Christologie des Evangelisten Markus, dessen Evangelium mit der Taufe Christi im dreißigsten Lebensjahr beginnt. Und dann fällt erstmals ein Begriff, der später zunehmend in eine zentrale Position einrückt: das »Mysterium von Golgatha«. Damit ist das Christentum zur Mitte der universalen Religionsgeschichte geworden. »Der Christus« gilt ihm nun als »Träger der Erdenentwickelung«, er »ist der Erdengeist, und die Erde ist sein Leib«. Der Christus war kosmisch geworden. Für diese Vorstellung eines »kosmischen Christus« gab es in der theosophischen Gesellschaft eine einschlägige Referenz: Annie Besant. Sie hatte diese Formulierung geprägt1 und die Konzeption eines »Esoterischen Christentums« – so der Titel ihres Buches, das 1903 ins Deutsche übersetzt worden war – in der Theosophie hoffähig gemacht. Steiner hatte es schon 1901 gelesen und pries es 1903, nach seiner Übersetzung ins Deutsche, als »Schlüsselbuch« und eine »Grundlage«, durch die »der verborgene Sinn der Bibelworte sich für den hingebungsvollen Leser enthüllt«. Verglichen mit seinen rudimentären Vorstellungen besaß Besant ein komplexes Christusbild: Sie unterschied den »historischen Christus«, den Jesus als »Heiler und Lehrer«, vom »mythischen Christus« in Symbolen und Erzählungen, und den wiederum vom »mystischen Christus«, der »im Menschen geboren wird«2. Steiner hat sich nie zu der mutmaßlich hohen Bedeutung dieses Buches bekannt, aber all diese Elemente finden sich auch in seiner Christus-Vorstellung. Doch 1906 war die Zeit vorbei, wo er solche Abhängigkeiten stolz als Gemeinsamkeiten der okkultistischen Gelehrtengemeinschaft vorgezeigt hätte. Dass er Besants Esoterisches Christentum intensiv studiert hatte, erfahren wir erst Jahre später, etwa 1909, als er im Rahmen sich abkühlender Beziehungen dieses Buch kritisiert – in Anspielungen, in denen der Name Besant aber nicht mehr fällt.
Steiner war damit in das Kraftfeld des theosophischen Christentums geraten, denn die Theosophie war ja, davon war schon die Rede, weit mehr als Asienverehrung. Immer schon hatte es die christlichen Theosophen gegeben, etwa in der »hermetischen« Gegenbewegung der Anna Kingsford und des Edward Maitland, die den Schlüssel der Religionsgeschichte im Christentum liegen sahen. Diese Debatte hatte die Theosophie schon zu Lebzeiten Blavatskys an den Rand des Zerbrechens gebracht und die spätere Aufwertung des Christentums durch Leadbeater und Besant vorbereitet.