Thaddäus hat geschrieben: ↑Mi 28. Dez 2022, 17:53
Nein, keineswegs. Eine aus einem Widerspruch abgeleitete Praxis ... ? Was ist die wohl? Nun, sie kann nur widersprüchlich sein, denn aus einem Widerspruch ist sie geboren.
Wenn der Kreter sagt
"Alle Kreter lügen immer", dann ist das ein performativer Widerspruch, sicher.
Dennoch kann die Tatsache, oder Praxis,
"Alle Kreter lügen immer" problemlos möglich sein und ist nicht "widersprüchlich".
Das ist das fundamentale Problem an deiner Argumentation.
Eine Aussage, die ein performativer Widerspruch ist, ist immer falsch und die aus ihm resultierenden Konsequenzen unsinnig! Das ist Logik lieber Freund, aber gewiss kein auf den Boden stampfen und Rechthaberei. Stellt man eine Behauptung auf und betont gleichzeitig, damit keinen Wahrheitsanspruch aufstellen zu wollen, ist die Behauprung schlicht belanglos und gilt als nicht gestellt.
Die tiefere logische Begründung für die Kraft von Retorsionsargumenten ist das von mir weiter oben erklärte principle of explosion. Ein zugelassener Widerspruch in einem System breitet sich explosionsartig aus und erzeugt unkontrolliert weitere Widersprüche: ex falso sequitur quodlibet.
Wenn man einen Widerspruch in den Axiomen (oder Postulaten) drin hat, lässt sich jeder Satz beweisen - darin besteht die "Explosion". Aus dem Falschen kann allerdings auch das Wahre folgen.
Ähem, ich biete hier nicht Gabriel als Heilsbringer an. Ich bin keine Philosophin geworden, um den Messias zu verkünden. Wenn du mit ihm nichts anfangen kannst, dann ist das eben so. Ich bekomme kein Geld dafür, dass du ihn toll findest. Du trägst selbst die Verantwortung dafür, welche Mentoren du für ein gute Wahl hältst.
Die Bemerkung war nun wirklich nicht schlimm. Oder? Im Vergleich zu deinen seitenweisen ... temperamentvollen Einlassungen...
Generell halte ich mich sehr zurück und steige ungern in all diese Polemik ein.
Thaddäus hat geschrieben: ↑Do 29. Dez 2022, 10:28Zur Faktenlage: Retorsionsargumente gehören zu den wichtigsten Argumentationsformen in der Philosophie, da ihre Anwendung einen performativen Widerspruch in einer Aussage offenlegt: In einer Aussage wird etwas behauptet, dass die Wahrheit der Aussage konterkariert.
Sind sie wirklich so wichtig? Wer behauptet das denn?
Für mich sind Retorsionsargumente irgendwie Schweinchen-Schlau-Argumente. Und da sie intuitiv so falsch wirken, haben sie erfahrungsgemäß nicht die geringste Überzeugungskraft (das sagt natürlich nichts über ihre tatsächliche Korrektheit aus, aber sollte einen verdächtig stimmen).
Bei den ganzen endlos-sinnlosen Hiob / closs Diskussionen ist mir nur noch mehr klar geworden, wie wenig begreiflich und einleuchtend Retorsionsargumente sind.
- Spoiler: anzeigen
Hiob hat geschrieben: ↑Sa 14. Mai 2022, 00:01Claymore hat geschrieben: ↑Di 19. Apr 2022, 22:00
Auch nach monatelanger Debatte bleibt “was im absoluten Sinne ist” nur ein menschliches Konstrukt, dem du aus irgendeinem mysteriösen Grund zu-sprichst, von menschlichen Vorstellungen unkontaminiert zu sein.
Der Vulkan auf einem Planeten in einem Sonnensystem, das 3 Milliarden Lichtjahren entfernt ist, speit oder speit nicht - völlig unabhängig davon, ob wir es wahrnehmen (können). Dieser Vulkan "ist" nicht weniger oder mehr, wenn wir ihn dabei beobachten. Das Sein ist die Eiche, an dem sich das Schwein namens Wahrnehmung kratzt. ----- Selbstkritische Einschränkung: Was ist dieser Vulkan im Sinne der Quantenphysik? SChwierige Frage.
All sein Skepzizismus basierte auf Überzeugungen und Begrifflichkeiten, die allein durch einen nicht-skeptischen Zugang zur Realität gewonnen werden konnten, ja sonst überhaupt nicht verständlich wären.
Aber ok, in der Beweistheorie für formale Systeme haben Retorsionen ihre Berechtigung - der mathematische Satz, der seine eigene Nichtbeweisbarkeit behauptet. Da gibt's schließlich keine interessante Praxis.
Ansonsten denke ich, dass die Ausweichmanöver wie von Sextus Empiricus tatsächlich funktionieren. Die meisten philosophisch Ahnungslosen legen diese Ausweichmanöver zwar nicht präzise dar, aber sie "wittern" wohl zumindest das Schlupfloch.
Nicht einmal, dass ich die Tatsache besonders schön finde, aber ich erkenne sie an.
Thaddäus hat geschrieben: ↑Do 29. Dez 2022, 10:28
Ein besonders krasses Beispiel für einen performativen Widerspruch ist z.B. die radikalskeptische Grundthese:
(RT) "Es gibt keine Wahrheit."
Wenn es tatsächlich der Fall ist, dass es keine Wahrheit gibt, dann kann auch die Aussage (RT) nicht wahr sein. Also: Wenn (RT) wahr wäre, wäre (RT) falsch. Indem man die All-Aussage (RT) tätigt, widerspricht man sich also selbst. Das nennt man einen performativen Widerspruch.
Gewitzte antike pyrrhonische Sophistiker (wie oben Claymore

) haben diesen unmittelbar einleuchtenden Selbst-Widerspruch aufzulösen versucht, indem sie einfach behaupteten, sie wollten mit dieser Aussage gar keinen Wahrheitsanspruch erheben, sondern lediglich eine skeptische Praxis vorleben, die man übernehmen kann oder nicht.
Ich denke schon, dass das greift. Die Skeptiker glaubten einfach nicht an die Wahrheit. Wenn sie sagten
"Es gibt keine Wahrheit" muss man das als Herausforderung oder Versprechen verstehen:
"Liefert uns doch eure angeblichen Wahrheiten, und dann werden wir euch schon klar machen, dass ihr selbst an diesen zweifeln solltet!"
Die Kritik, die ich zulassen würde, ist, dass die Methode des pyrrhonischen Skeptizismus von der Sichtweise eines anti-skeptischen Philosophen aus betrachtet, allein die
Überzeugung als Ziel hat, und damit nur eine Art Propagandatechnik ist. Eine wirkliche Diskussion, die aus Sicht des Anti-Skeptikers auf Wahrheitsfindung abzielt, kann es nicht geben.
Zurück zum ursprünglichen Punkt: wenn der naive Szientist sagt
"Nur die Wissenschaft ermöglicht es uns zu sagen, was wirklich wahr ist", dann schnappt die Falle zu. 1:0 für Schweinchen Schlau.
Aber ein raffinierterer Szientist sagt halt
"Wenn jemand glaubt, einen anderen Zugang zur Wahrheit als die Wissenschaft zu kennen, soll er nur kommen - ich werd mit dem Unsinn schon wissenschaftlich aufräumen!", so fordert er die Anti-Szientisten nur heraus und die Retorsion greift nicht.
Thaddäus hat geschrieben: ↑Do 29. Dez 2022, 10:28Diese Argumentationsstrategie greift aber nicht, da der Widerspruch nicht beseitigt wird, sondern einfach ignoriert
Der Widerspruch wird beseitigt durch eine Erklärung, dass "Es gibt keine Wahrheit" nur eine façon de parler ist.
Thaddäus hat geschrieben: ↑Do 29. Dez 2022, 10:28Zudem ist folgendes der Fall: Der Sinn einer Tatsachenbehauptung ist es, eine Tatsache zu behaupten. Sagt man, es gibt keine Wahrheit, stellt man offenkundig die epistemische These auf, dass es keine Wahrheit gibt. Behauptet man, dass es gerade in München regnet, behauptet man ein Tatsache, nämlich dass es gerade in München regnet.
Wenn man mit seiner Aussage keinen Wahrheitsanspruch erhebt, behauptet man keine Tatsache mehr. Und das bedeutet, dass die getätigte Aussage epistemisch irrelevant ist. Es macht keinen Unterschied, ob man die Aussage macht oder nicht.
Ja, es werden keine Tatsachen mehr behauptet, korrekt. Aber viele Sätze sind keine Tatsachenbehauptungen und trotzdem nicht gleich sinnfreies Gebrabbel - z. B. Befehle oder Appelle, Versprechen.
Thaddäus hat geschrieben: ↑Do 29. Dez 2022, 11:43Nein, ganz und gar nicht. Selbst Fachphilosophen kommen oftmals an den Punkt, wo geklärt werden muss, wie es sich mit einem Argument genau verhält. Nur in der Mathematik kann man eine Einsicht erzwingen, weil sich am Ende jeder der Logik beugen muss, sonst ist er einfach raus aus der Diskussion und steht als Depp dar. In der Philosophie ist es etwas komplizierter. Zuweilen ist man nicht in der Lage ein Argument zu sehen, weil man immer anders gedacht hat oder man starke Aversionen gegen das hat, was bei der Argumentation heraus kommt. In diesem Falle muss man behutsam erklären, warum eine Argumentation gültig ist.
Ich habe Aversionen gegen Retorsionsargumente. Weil sie als Allheilmittel gegen fragwürdige Positionen angepriesen wurden aber das Produkt nicht hält, was es verspricht.