Thaddäus hat geschrieben: ↑So 8. Jan 2023, 12:09
Ja, sehr schön!
Sicherlich schön, aber falsch. - Der Satz "Für Hiob gibt es aber fundamental gesehen keinen Zugang zur Wirklichkeit" (Claymore) ist falsch. - Die Aussage ist vielmehr, dass der Zugang zu dem, was man als Wirklichkeit bezeichnet, nur systemisch objektiviert werden kann.
Sätze wie "Dieser Stein hat eine Masse von 1.000 kg" ist systemisch per Wissenschaft objektivierbar und darf als authentischer Ausdruck einer Wirklichkeit verstanden werden. Innerhalb des naturwissenschaftlichen Kosmos darf man diesen Satz also als "Wahrheit" verstehen - und zwar für alle.
Sätze wie "Ich liebe meine Kinder" können genauso wahr sein, allerdings sind sie nicht objektivierbar. Dies heißt aber nicht, dass der Liebende deshalb "fundamental gesehen keinen Zugang zur Wirklichkeit" hat. Als sei die menschliche Analyse Voraussetzung für "Tatsache" oder "wahr". Die Frage ist NICHT, ob etwas Tatsache "ist" oder wahr "ist" (dazu braucht es uns nicht), sondern ob und wie wir uns an diese Frage heranrobben. "Wahrheit" ist doch kein anthropozentrischer Begriff (oder heute doch?).
Viel wichtiger: "Liebe" kann derart unterschiedlich definiert werden, dass man fragen muss, welche Definition im gegebenen Fall zugrunde liegt. Die Sätze "Gott liebt den Menschen" und "Ich liebe meine Frau" können semantisch sehr Unterschiedliches bedeuten.
Thaddäus hat geschrieben: ↑So 8. Jan 2023, 12:09
wenn niemand behaupten kann, die Wahrheit (die zweifellos existiert), erkennen zu können, dann gilt das eben exakt auch für diese Behauptung selbst
Da bin ich doch schon viel weiter. - Erstens: Ja, man kann nicht voraussetzungsfrei nachweisen, dass die eigene Behauptung (also hier die meinige) wahr ist. Also muss der Behauptende unterlegen, unter welchen Bedingungen dieser Satz wahr ist. Umgekehrt muss sich der Kritiker vergewissern, dass er diese Bedingungen gerafft hat.
Das mag kompliziert klingen, ist es aber dann nicht, wenn Gesprächspartner in den geistigen Grundzügen in etwa auf derselben Schiene unterwegs sind. Mit anderen Worten: Wenn ich mit meinem alten Professoren oder meiner theologischen Freundin gesprochen habe, gab es keinerlei Grundsatz-Diskussionen, weil die weltanschaulichen Voraussetzungen klar waren. Und wenn ich mich nächste Woche mit meinem neuropsychologischen Kumpel unterhalte, der streng wisssenschaftlich arbeitet, aber zudem auch ein geistiger Mensch ist, werden wir mühelos die Ebenen wechseln können - weil wir eingespielt sind. Da kommen dann Fragen wie: "Meinst Du das psychologisch, neurologisch, philosophisch oder theologisch?". Jeder weiß, dass je nach Disziplin eine Frage anders zu beantworten ist.
Soweit Du literaturwissenschaftlich interessiert bist: Guck mal in der Romantik bei Friedrich Schlegel. Er hat dazu in den Lyceums-Fragmenten einige interessante Aussagen gemacht. Folgerichtig steht Schlegel in Nähe zu Friedrich Ast, der erstmals den Begriff "Hermeneutischer Zirkel" benutzt hat.
Nun gibt es natürlich Fragen (sogar die meisten im Alltag), bei denen solcher Perspektiven-Zoo nicht nötig ist. Die Frage "Hättest Du Lust auf einen Kaffee?" wird man nicht psychologisch, neurologisch, philosophisch oder theologisch durchdeklinieren. Insofern ist Dein kommunikativer Alltag vermutlich nicht viel anders als meiner. Aber bei geistigen Fragestellungen ist das ganz anders.
Nimm das Wort "Geist". Was ist die "Tatsache" des Wortes "Geist"?
Der Biologe wird sagen: "Das Gehirn entwickelt sich und kann nach x Wochen oder Monaten etwas, was nach unserer Definition als 'geistig' bezeichnet wird. Geist ist also ein Produkt des Gehirns, wie wir nachweisen können". Ist dies jetzt eine "Tatsache"?
Der Christ sagt beispielsweise: "Geist ist eine Entität metaphysischer Qualität, die sich mit der Zeugung im Menschen nach und nach inkarniert" (oder so ähnlich). Materie ist also ein Produkt des Geistes (auch vor dem Hintergrund von: "Gott ist Geist"). Ist das jetzt eine "Tatsache"?
MEINE Aussage ist nun und nach wie vor: Zu dieser Frage IST eine Tatsache, aber unabhängig von naturwissenschaftlichen oder theologischen Mutmaßungen. Diese Mutmaßungen können nah dran sein, können dies aber selber nicht entscheiden. Dies zu begreifen, nenne ich "Diskussionsgrundlagen".