Das eigentlich unverständliche Wort „Jahwe“ wird allgemein auf die Wortwurzel Haja, Sein, zurückgeführt. Doch man darf dies auch in Frage stellen, denn die Etymologie eines Wortes ist im AT immer eine theologische, nicht eine philologische. Der Gedanke des Seins als Deutung Gottes bringt gleichzeitig immer ein Gottesbild mit sich. Hier taucht der Gott der Philosophen auf, der sich gegen den Gott der Religionen richtet. Der Glaube wird mit Ontologie vermählt. Die Gleichheit des Gottes der Philosophen mit dem Gott des Glaubens verkehrt jedoch den biblischen Gottesgedanken. Anstelle des Namens wird der Begriff gesetzt, anstelle des Nicht-zu-Definierenden tritt nun eine Definition. Der Gott der Philosophen genügt demnach nicht, so wie sie ihn definieren und denken.
Die Volkwerdung Israels hat ihren Ausgangspunkt in der endgültigen Ausbildung eines eigenen Gottesnamens, so wie ihn Mose am brennenden Dornbusch erfahren hat. Das führt auch zu einem eigenen Gottesbild. Im babylonischen Reich findet man theophore Namen, die mit dem Wortelement „yau, ya, jaun“ andeuten, dass jener Gott „der Meinige“ ist, „mein Gott“. Hier will die Wortbildung auf einen persönlichen Gott verweisen, einen Gott, der auf den Menschen hingewandt ist, der selbst personenhaft und personenbezogen ist. Es ist also der Gott, der als der persönlich Seiende mit dem Menschen als Menschen zu tun hat. Deshalb wird in der Dornbuschgeschichte auch der Jahwe-Glauben mit dem Glauben der Väter verbunden: Gott ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.
Dieser Gott der Väter hieß aber nicht Jahwe, sondern El und Elohim. Der Gott, für den sich die Väter entschieden ist religionstypologisch dadurch gekennzeichnet, dass er ein Personengott (numen personale) ist und nicht mehr Ortsgott (numen locale). In dem Gott nicht mehr an einen Ort gebunden, sondern der Gott von Menschen wird, kann er überall anwesend sein und allmächtig, dort, wo der Mensch sich findet. Gott wird gesehen auf der Ebene von Ich und Du, nicht mehr auf der Ebene des Zeitlichen und Räumlichen. Gott ist nicht irgendeine irgendwo wirkende Macht, sondern allein jene Macht, die alle Macht in sich fasst und über den Einzelmächten steht.
Dieser Gott der Väter ist gleichfalls der Gott der Verheißung. Er ist keine Naturmacht, in deren Erscheinung sich die ewige Mächtigkeit der Natur, das ewige „Stirb und Werde“ zeigt, er ist kein Gott, der den Menschen auf das ewig Gleiche des kosmischen Kreislaufs hin orientiert. Der Gott der Väter verweist stets auf das Kommende, auf das der Mensch zuschreitet, auf Sinn und Ziel. Gott ist die Hoffnung auf das Künftige, eine unumkehrbare Richtung, die auch persönliche Umkehr fordert.
In dem der El-Glaube Israels ausgeweitet wurde auf „Elohim“, deutet sich zugleich ein Prozess der Umwandlung an, die im NT ihre Vollendung findet: aus der Einzahl El wird die Mehrzahl Elohim. Gott überschreitet die Grenzen zwischen Plural und Singular. Das mag noch keine Trinitätsoffenbarung im AT sein, jedoch liegt in diesem Vorgang eine Erfahrung verborgen, die sich in der christlichen Rede vom dreieinigen Gott hin öffnen lässt. Man weiß noch unreflektiert, dass Gott der radikal Eine ist, aber doch nicht in die menschliche Kategorie von Einzahl und Mehrzahl gepresst werden kann. Gott liegt oberhalb dieser Kategorien, obwohl er wahrhaft nur ein Gott ist. Alles Göttliche ist Er, womit die Fruchtbarkeitsverehrung abgewiesen wird, die rund um Israel mit dem Gott Baal vorherrschte und die lokale Bindung des Göttlichen. Verneint ist ebenso der Königsgott Melech (Moloch), der ein bestimmtes soziales Modell fordert. Der Gott Israels ist jenseits der aristokratischen Form eines Königs, einer schrankenlosen Despotie, die sich mit dem Bild des Königs verband.
Gott gab sich Mose am Dornbusch zu erkennen, indem er sprach: „Ich bin, der ich bin“. Das erscheint doch eigentlich als Abweisung, als Weigerung sich einen Namen zu geben. In Paralleltexten in Ri 13:18 und Gen 32:30 erhärtet sich diese Wahrscheinlichkeit. Die Auslegung des Namens „Jahwe“ durch das Wörtchen „Sein“ dient einer Art negativer Theologie. Der Name wird quasi als Name aufgehoben. Der Name wird in das Mysterium hinein aufgelöst, das Gott zugleich Bekanntsein und Unbekanntsein ist. Der Name als Zeichen der Bekanntschaft wird zu Chiffre für das Unbenanntsein Gottes. Deshalb spricht Israel den Namen zu Recht nicht aus, umschreibt ihn, so dass er in der griechischen Bibel gar nicht mehr auftaucht und dort einfach durch „Herr“ ersetzt wird. Auch die Kirche lässt den Namen Jahwe aus und in dieser Entwicklung wird das Geheimnis der Dornbuschszene genauer begriffen, als in allerlei gelehrten philologischen Erklärungen.
Das „Ich bin“ Gottes bedeutet so viel, wie ein „Ich bin da, ich bin für euch da“. Gottes Anwesenheit in Israel wird dadurch betont, sein Sein ist nicht sein Sein in sich, sondern ein Sein-für. Im Schauspiel aller Vergänglichkeit „ist“ der Gott Israels und nicht „wird“. In allem Werden und Vergehen „ist“ er. Dieser Gott, der „ist“, ist zugleich jener, der mit uns ist, nicht nur Gott in sich, sondern unser Gott, der Gott der Väter. Als Gott in Jes 48:12 „Ich bin es, ich bin der Erste, ich bin auch der Letzte!“ von sich aussagt, stellt er sich gegen den nichtigen Pantheon Babylons und den versunkenen Göttern, er erhebt sich kommentarlos über ihnen.
Der Evangelist Johannes knüpft an diesen Gedanken in der Weisheitsliteratur und in Jesaja an und kann gar nicht anders, als auf diesen Hintergrund verstanden werden. Als Jesus Christus bei Johannes dieses „Ich bin es“ erneut ausspricht, wird es zur Kernformel seines Gottesglaubens, in dem er es zur Zentralformel seiner Christologie macht. Das ganze Kapitel 17 des Johannesevangeliums, das sogenannte „Hohepriesterliche Gebet“ kreist um den Gedanken, dass Jesus der wahre Offenbarer des Gottesnamens ist. So wird es zum neutestamentlichen Gegenstück zur Dornbuschszene. Christus erscheint gleichsam selbst als der brennende Dornbusch, von dem aus der Name Gottes an die Menschen ergeht. Die Namensidee tritt in ein entscheidendes Stadium: Der Name ist nicht bloß an ein Wort gebunden, sondern eine Person: Jesus Christus.
Will ein Begriff das Wesen einer Sache erkennen, so wie sie in sich selbst ist, so benennt der Name die Sache, macht sie anrufbar, ermöglicht Beziehung zu ihr. Der Name stellt die Relation der Mitmenschlichkeit her. Wenn Gott sich nach dem Selbstverständnis des Glaubens benennt, drückt er auch sein inneres Wesen aus, mehr noch macht er sich aber nenn- und rufbar, gibt sich dem Menschen preis. Dadurch tritt er in die Mitexistenz mit den Menschen ein, wird erreichbar und ist für sie da. Johannes stellt den Herrn Jesus Christus als den wirklichen, lebendigen Gottesnamen vor. In ihm erfüllt sich das, was ein bloßes Wort letztlich doch nicht erfüllen kann. In ihm ist der Sinn der Rede vom Gottesnamen vollendet. In Jesus Christus ist Gott der Rufbare geworden, trat in die Mitexistenz des Menschen ein. Der Name ist nicht mehr ein Wort, an dem man sich klammert, sondern es ist Fleisch geworden, Fleisch von unserem Fleisch.