Der Mensch und die Schlange
Verfasst: Mi 4. Mai 2022, 23:39
kleine jüdische Betrachtung der Worte (von Rabbiner Samson Raphael Hirsch, kurz zusammengefasst):
Genesis 3, 1: Es war aber die Schlange listiger (klüger) als alles Tier des Feldes, welches Gott gemacht hatte, uns sie sprach zu der Frau: Wenngleich Gott es gesagt, solltet ihr von all den Bäumen des Gartens nicht essen.
Die Geschichte des ersten Fehltritts ist die Geschichte aller Verirrungen.
Im Tier wohnt der Instinkt inne, und dieser Instinkt ist die Gottesstimme, der Gotteswille für es. Was es demnach, dieser in ihm waltenden göttlichen Vorsehung gemäss, tut – und anderes tut es nicht, kann es nicht tun – ist gut, und alles, wovon dieser Instinkt es zurückhält, ist das Böse. Das Tier geht nicht fehl. Es hat nur eine Natur, der es folgen kann, folgen soll.
Nicht so der Mensch. Er soll aus freier Wahl und aus Pflichtbewusstsein sich für das Gute entschliessen und das Böse meiden. So soll er auch seiner sinnlichen Natur nicht aus Sinnesreiz, sondern aus Pflichtgefühl gerecht werden.
Die dem Menschen eingehauchte Gottesstimme – das Gewissen, als dessen Bote wir die Scham erkennen – mahnt nur den Menschen allgemein, gut zu sein, das Böse zu meiden; was aber für den Menschen das Gute sei und das Bös, hat er nur aus Gottes Mund zu vernehmen.
So war der Mensch auch nicht ins Paradies gesetzt, um mit den dargebotenen Genüssen seine sinnliche Natur zu befriedigen, sondern in den Dienst Gottes und Seiner Welt ward er dorthin berufen.
Das Tier mag daher alles nach seiner individuellen Natur prüfen, der Mensch aber ist für Gott und Welt da und soll auch seine individuelle Natur freudig dieser höheren Bestimmung opfern.
So steht nun der Mensch hier vor dem Baum, und die individuelle Natur sagt, dass er „gut“ sei, aber Gottes Wort hatte ihn, den Baum als “bös“ verpönt. Das war ihm das Muster und das Regulativ für alles menschliche Gute und Böse, das war ihm der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.
Da tritt die Weisheit der Tierwelt in ihrem klügsten Repräsentanten, der Schlange an ihn heran. Dem Tier, auch dem klügsten, ist es unbegreiflich, wie der Mensch an dem schönsten, reizendsten, besten Genuss unempfindlich vorübergehen.
So steht der Mensch mit dem Tier im Gespräch, welches ihn fragt: „Ist nicht auch der Trieb in euch Gottes Stimme? Wenn der Genuss für euch schlecht ist, warum gab Er dem Genuss den Reiz und euch den Trieb, hat Er damit nicht euch nicht deutlich gesagt, dass dieser Genuss und ihr füreinander da seid?“
So spricht die Schlange (der Trieb) und (mit) die Tierweisheit, nackt oder im philosophischen Gewande noch heute zu und in uns. Und die übertreibt heute wie damals und übersieht über dem wenigen Verboten die Summe des Gestatteten und stellt das göttliche Sittengesetz als Feind aller sittlichen Genüsse dar.