Claymore hat geschrieben: ↑Mi 24. Mai 2023, 20:49
Aber, "1 + 1 = 2" ist der Fall und unabhängig von der Wahrnehmung, und ist deswegen die 1, +, = und 2 ontisch?
Dies ist eine Systemaussage auf Basis mathematischer Axiome - ich vermute, dass sie ontischen Charakter hat. Generell: Es ist doch Ziel jeglicher redlicher Methodik, dem Ontischen so nahe wie möglich zu kommen. Nur weiß man es halt strenggenommen nicht, weil es einen kategorialen Unterschied zwischen Subjekt und Objekt gibt.
Claymore hat geschrieben: ↑Mi 24. Mai 2023, 20:49
Aber prima facie hat doch die Vergangenheit einen radikal anderen Seins-Status als die Gegenwart. Gehört Napoleon zum ontischen Sein?
Moment. Ontisch gibt es keine Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Die Existenz Napoleons gehört zum historisch Sicheren - seine Gegenwart war halt in dem, was wir aus unserer Sicht Vergangenheit nennen. Ob man bei Erscheinungen, egal ob sie Napoleon oder Claymore heißen, überhaupt mit dem Begriff "ontisch" kommen sollten, zweifle ich an, weil wir an den beiden nur das erkennen, was wir wahrnehmen - also einen Ausschnitt von dem, was man Napoleon oder Claymore nennt.
Claymore hat geschrieben: ↑Mi 24. Mai 2023, 20:49
Parmenides zwickte das so sehr, dass er sich das Sein als statisch und unveränderlich vorstellte.
Streng genommen ist das richtig - allerdings muss man dann über das Zeitliche hinausdenken. "Sein" heißt nicht, dass Claymore mit dem Rauchen aufhört und sich das Sein deshalb ändern muss, sondern "Sein" ist die Gesamtheit dessen, was Claymore war, ist und sein wird. Wenn Du es kleinteilig willst, hast Du natürlich recht - deswegen würde ich hier nicht das Wort "ontisch" verwenden.
In der Praxis braucht man es eh nicht. Es macht allerdings Sinn, daran zu erinnern, dass es es gibt, weil dies die einzige Chance ist, NICHT anthropozentrisch zu denken und zu handeln.
Claymore hat geschrieben: ↑Mi 24. Mai 2023, 20:49
Ein wissenschaftlicher Nachweis ist auch "der Mond ist nicht aus Käse" und der sollte an anderer Stelle für Dich sehr wohl als "ontisch" gelten.
Ich würde heute bei solchen Beispielen gar nicht das Wort "ontisch" verwenden - das verquatscht nur die Sache.
Claymore hat geschrieben: ↑Mi 24. Mai 2023, 21:47
Z. B. gilt im Christentum der Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen. Er ist die Krone der Schöpfung. Die ganze Schöpfung dreht sich um ihn - buchstäblich (geozentrisches Weltbild) wie metaphorisch (übernatürliche Mächte kämpfen um ihn).
In der Heilsgeschichte geht es um die geistige Erkenntnis des Menschen, weshalb sich natürlich alles darum dreht - da spricht man nicht über Tiere oder Alpha Centauri. So, wie ein Onkologe über Krebs spricht und nicht über Steuererklärungen.
Wenn Du die Fokussierung auf den Menschen als "anthropozentrisch" verstehst, weil dies Fokussierung auf den Menschen hin geht, hast Du natürlich recht. Dann ist in der Tat auch Kant anthropozentrisch, weil er sich für das Wesen und die Möglichkeiten der menschlichen Vernunft interessiert. Aber das wird doch nicht dem Begriff "anthropozentrisch" gerecht - VIELLEICHT historisch, weil damals mal einer so gemeint hat, aber doch nicht philosophisch.
Philosophisch wird die Frage "anthropozentrisch oder nicht" allein über die Frage entschieden, ob jemand sich selber (direkt oder über Bande) oder etwas Höheres zum Maßstab dessen macht, was wahr ist. So gesehen ist Kant das pure Gegenteil von anthropozentrisch, und das Christentum sogar programmatisch - wir sprechen auf zwei ganz unterschiedlichen Ebenen.
Claymore hat geschrieben: ↑Mi 24. Mai 2023, 21:47
Für Feuerbach projizieren die Menschen ihre Ängste, Wünsche und Sehnsüchte auf die Gottheit, die dann entsprechend anthropomorph dargestellt wird - was in der Menschwerdung Gottes gipfelt.
Bei entsprechenden Grundbedingungen kann man das so sehen.
Claymore hat geschrieben: ↑Mi 24. Mai 2023, 21:47
Was ist denn für Dich der Unterschied zwischen "anthropozentrisch" und "humanistisch"?
Das ist so was Ähnliches wie der Unterschied zwischen "ich bin Schweizer" und "ich wiege 120 kg" - völlig unterschiedliche Kategorien. Mögliche Fragen wären: Kann man humanistisch sein, wenn man Anthropozentriker ist? (Antwort: Ja, weil "Anthropozentrik" nichts darüber aussagt, ob er wohlwollend oder bösartig ist). Hier schwirren unterschiedliche Ebenen wild durcheinander.
Claymore hat geschrieben: ↑Mi 24. Mai 2023, 21:47
Weder Kant noch Descartes zeichnen sich durch besondere Bescheidenheit aus. Der Verdacht besteht also, dass Gott hier als ein Feigenblatt dient.
Biografistisch geht immer, weshalb ich nur empfehlen kann, erst den Primärtext zu lesen und dann zu gucken, wer ihn geschrieben hat.
Claymore hat geschrieben: ↑Mi 24. Mai 2023, 21:47
Aber die menschliche Vernunft kann diese empirische Welt nicht transzendieren. Und so sind auch alle klassischen Gottesbeweise ungültig.
Richtig. Das sagt aber nichts über die Qualität der meta-empirischen Welt aus. Heute neigt man tieffliegermäßig zum Satz: "Was nicht nachweisbar ist, ist nichtig", was in etwa auf dem Niveau steht "Ich mache meine Augen zu - siehst Du mich?".
Claymore hat geschrieben: ↑Mi 24. Mai 2023, 21:47
Kant lehnte die spekulative Metaphysik bekanntlich ab
Das habe ich anders gelesen. Ich habe verstanden, dass er den Versuch ablehnt, Metayphysik pseudo-vernünftig zu klassifizieren. Ich erinnere mich an einen Absatz, wo er sich sinngemäß darüber tierisch aufregt, dass Kollegen von ihm die Metaphysik methodisch in den Griff bekommen wollten (so ähnlich). UND: Du kennst seinen Satz, dass er das Wissen (also eine methodische Größe) aufgeben musste, um Platz für den Glauben zu haben. Kant sagt also zu seinen Kollegen: "Bleibt bei Euren Leisten".
Claymore hat geschrieben: ↑Mi 24. Mai 2023, 21:47Wir Menschen müssen autonom sein, um wirklich frei zu sein. Selbst-Gesetzgeber durch unsere Vernunft.
Sagt Kant das so? - Autonomie ist eigentlich Frucht einer Heteronomie, sonst ist es Anthopozentrik. Bei Augustinus verwenden manche den Begriff "augustinische Anarchie", was bedeutet, dass der Mensch aus sich heraus alles richtig macht und deshalb keiner Gesetzt (an-archie) bedarf. Das ist übrigens ein großes Thema bei Goethe und sowieso im Christentum. "Dein Wille geschehe" ist nicht die Vernichtung des menschlichen Willens (Autonomie), sondern dessen (hegelscher) Aufhebung - also eine Veredlung der Autonomie.
Claymore hat geschrieben: ↑Mi 24. Mai 2023, 21:47Descartes ist, was Ethik und Teleologie angeht, der anthropozentrischste Philosoph überhaupt.
Schwer zu vermitteln, wenn man weiß, dass Descartes ein bedingungsloser Theozentriker ist. Oder gehen beide Begriffe gleichzeitig?
Claymore hat geschrieben: ↑Mi 24. Mai 2023, 21:47
Es ging hier darum, dass
der Mensch als Ziel und Sinn des ganzen Universums angesehen wurde
ERsetze "Mensch" durch "ebenbildliche Wesen", dann könnte es hinhauen. Aber eben nur dann, wenn man geistig begriffen hat, dass Heilsgeschichte nicht Teil der Geschichte und der physikalischen Welt ist, sondern umgekehrt Geschichte und physikalische Welt Teil der Heilsgeschichte sind. - Für einen "modern" Geprägten sind solche Gedanken undenkbar. Das stehen zwei Seiten mit komplett unterschiedlichen Voraus-Setzungen gegenüber.
A sagt zu B, dass er anthropozentrisch sei, weil er ontische Wirklichkeit gleichsetzt mit wissenschaftlich Nachgewiesenem oder zumindest Nachweisbarem.
B sagt zu A, dass er anthropozentrisch sei, weil er die physikalische Welt (Universum) nicht zum Maßstab des Denkens macht, sondern das Geistige in ihm.
Wie sagte Tucholsky? - "Jeder hat ja so recht". - Und das stimmt hier wirklich. Bei Deinen Voraus-Setzungen würde ich zu ähnlichen Ergebnissen wie Du kommen.