Re: Ungeimpft III
Verfasst: So 21. Dez 2025, 02:21
Nur ergibt sich der Krankenstand allgemein nicht nur durch das Auftreten von Krankheiten sondern auch maßgeblich durch die Arbeitskultur.
Wir haben uns in meinem Arbeitsumfeld irgendwann letztes Jahr bei ein paar Getränken mal aus Interesse mit der Fragestellung befasst und ein wenig auf anekdotischer Basis zusammengetragen.
Bei uns gab es 2020/21 einen starken Bruch in der Arbeitskultur, bei dem man inzwischen wirklich von einem klaren Davor und einem Danach sprechen kann und für den zwei Dinge zusammengekommen sind. Zum einen gab es damals eine zunehmende, kritische Auseinandersetzung mit dem Thema 'Crunch' (ich glaube ausgehend von der Games-Branche), die zu uns rübergeschwappt ist und dazu geführt hat, dass eine Gruppe von Mitarbeitern eine völlig berechtigte Grundsatzdebatte losgetreten hat inwiefern unser eigener Umgang mit Überstunden, Deadlines etc langfristig tragbar ist. Auch ohne Pandemie wäre diese Debatte wohl so oder so zumindest geführt worden, aber das erhöhte allgemeine Stresslevel hat definitv dazu beigetragen, dass wir zu dem Ergebnis gekommen sind, dass sich etwas ändern muss. Gleichzeitig hat Covid dafür gesorgt, dass noch einmal ein spezieller Fokus auf die Frage gelegt wurde, ob es vertretbar ist, dass Leute so häufig arbeiten, obwohl sie krank sind. Jetzt muss man dazu sagen, dass wir damit leider immer recht unkritisch (rückblickend würde ich es als unvernünftig bis dumm bezeichnen) umgegangen sind. Ein beträchtlicher Teil der Leute hat schon lange vor Covid im Homeoffice gearbeitet und da war - ehrlicherweise auch bei mir - die Hemmung angeschlagen oder auch krank zu arbeiten nicht so wahnsinnig stark. Entscheidender für das Umdenken waren aber die, die während Covid nur temporär im Homeoffice waren und mehrheitlich gesagt haben, sie haben wenig Lust wieder in einen Büroalltag zurückzukehren, in dem sie immer wieder mit kranken Kollegen in einem Raum sitzen.
Das alles hat zu diversen Änderungen auf verschiedenen Ebenen geführt und unter anderem eben auch dazu, dass gesagt wurde 'Leute, wenn ihr nicht fit seid, dann meldet euch lieber krank'. Das wird zwar auch heute noch nicht religiös eingehalten, aber die Situation hat sich auf jeden Fall verbessert. Der Anstieg beim Krankenstand war daher absolut vorherseh- und erwartbar.
Die interessante bleibende Frage für uns war, ob die Leute tatsächlich häufiger und oder länger krank waren und diese Frage konnte nicht so eindeutig beantwortet werden, einfach deshalb, da das ja nie lückenlos festgehalten wurde und wer kann schon für die letzten 10 Jahre exakt sagen, wie oft sie krank, aber nicht krankgeschrieben waren. Die Einschätzungen waren gemischt. Die meisten waren der Meinung, dass sie zumindet nicht eindeutig häufiger krank werden, als früher. Ein paar waren sogar der Meinung, dass sie inzwischen klar seltener krank sind, obwohl sie häufiger krankgeschrieben sind (inkl. der Frage ob man das 'obwohl' nicht eher durch ein 'weil' ersetzen müsste).
Es gab aber auch die, die gesagt haben, dass sie definitv häufiger krank werden, wobei die, wie wir nach Vermutung eines Kollegen festgestellt haben, bis auf zwei Ausnahmen eine - vielleicht entscheidende? - Gemeinsamkeit hatten: Sie sind in den letzten Jahren Eltern geworden.
Wir haben auch versucht irgendeinen Zusammenhang zu Covid-Infektionen und -Impfungen zu finden, dort gab es aber so gemischte Ergebnisse, dass unterm Strich kein nennenswerter Unterschied in die eine oder andere Richtung erkennbar war und bzgl. der Impfung waren ohnehin keine verwertbaren Ergebnisse zu erwarten, da man die Ungeimpften in der Runde an einer unvollständigen Hand abzählen konnte, da lässt sich schlecht vergleichen.
Insgesamt also wie gesagt nicht ganz eindeutig und ohnehin nicht generalisierbar, aber wir sind zu der Ansicht gekommen, dass der spürbare Anstieg beim Krankenstand nicht durch einen vergleichbaren spürbaren Anstieg bei tatsächlichen Erkrankungen gedeckt wird und erklären es für unsere Firma eher durch die veränderte Arbeitskultur.
Jetzt kann man natürlich völlig berechtigt einwerfen, dass nicht jede Firma vor 2021 eine vergleichbar fragwürdige Arbeitskultur entwickelt und um 2021 einen vergleichbaren, organisierten Wandel durchgemacht hat, ich denke aber dennoch, dass es in dieser Zeit auf individueller Basis vergleichbare Entwicklungen bei vielen Arbeitnehmern gab. Ich habe den Eindruck, dass die Krisen der letzten Jahre dazu geführt haben, dass die Aufopferungsbereitschaft für ein Unternehmen - v.a. bei Leuten, die nicht in kleineren, tatsächlich eng gestrickten Familienbetrieben o.ä. arbeiten - stark abgenommen hat, denn nicht wenigen wurde durch die Entlassungswellen in diversen Branchen wieder einmal vor Augen geführt, dass diese Bereitschaft eine Einbahnstraße ist. Wenn's wirklich hart auf hart kommt bleibt von "Wir verstehen unser Unternehmen als Familie"-Selbstdarstellung nicht viel übrig und es gilt "Keine Firma liegt Nachts wach und denkt an dich". Warum soll man sich für so einen Arbeitgeber aufarbeiten?
In diesem Sinne, frohe Weihnachten